David Albahari
"Mutterland"

Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann
Eichborn Berlin 2002
170 S.; 17,90 Euro


"Womit soll ich anfangen?", sind die ersten Worte, aufgezeichnet auf ein Tonband,  die der junge Mann aus David Albaharis Debütroman "Mutterland" erstmalig nach 14 Jahren wieder von seiner Mutter hört. Lange haben die Tonbänder versteckt hinter den Büchern seines Regals gelegen, weit genug entfernt, um nicht an die schicksalhafte Geschichte seiner Eltern und die seines Heimatlandes Jugoslawien erinnert zu werden.
Doch die Neugier war größer und trieb ihn, die vertraute Stimme der Mutter noch einmal zu hören, die sich zögerlich ihres Lebens erinnert. Der Ich-Erzähler hatte seine Mutter nach dem Tod des Vaters überredet, ihre Geschichte zu erzählen, wohl um mehr Klarheit über seine Eltern zu gewinnen, die er nur oberflächlich zu kennen glaubt.
Doch dies ist nicht nur die Erzählung einer Familiengeschichte, sondern auch die eines dramatischen Überlebenskampfes jüdischer Bürger auf dem Balkan. Die Schrecken des 2. Weltkrieges waren noch nicht vergessen, als zu Beginn der 1990 Jahre wiederum ein barbarischer Krieg den Vielvölkerstaat Jugoslawien zerstörte.
Einmal stellt die Mutter resignierend fest, dass das, was Hitler damals nicht geschafft hat, die heutigen Kriegsherren in die Tat umsetzen - die Vernichtung der Juden. Was bedeutet bei all den Wirren der Geschichte noch die Heimat, die mehr Fluch als Segen ist? 
Der Protagonist aus Albaharis Roman lebt mittlerweile weit weg von seinem Heimatland in Kanada und versucht sich als Schriftsteller durchs Leben zu bringen. Doch Selbstzweifel behindern seine Kreativität. Einzig der Wunsch, die Geschichte seiner Mutter zu erzählen lässt ihn immer tiefer in deren Biographie, die auch die seine ist, eindringen. Manchmal lauscht er wehmütig ihrer Stimme und genießt den Klang der heimatlichen Sprache. All die längst vergessen geglaubten Erinnerungen tauchen wieder auf und werden von David Albahari kunstvoll miteinander verknüpft. Er nimmt den Leser mit auf eine Reise in 
in die Seele eines Flüchtigen, der in der Fremde das ewig Belastende seiner Vergangenheit vergessen wollte.
Schrittweise lernt er immer neue Facetten seiner Mutter kennen, die er zu kennen glaubte und die alles darum gab, ihre Familie zu beschützen. Er schreibt so das Portrait einer starken Frau, deren persönliche Ideale jede politische Herrschaft überstanden haben. Für den Sohn ist dies ein bewundernswerter Charakterzug, der jedoch seiner eigenen Geschichtslosigkeit in der Fremde entgegensteht. Seine Reaktion auf die unhaltbaren politischen Zustände in seiner Heimat war die Flucht, wohingegen seine Mutter aushielt und auf bessere Zeiten hoffte. 
Albahari hat mit "Mutterland" einen äußerst tiefsinnigen und feinfühligen Roman über die Last der Erinnerung geschrieben, von der sich sein Protagonist jedoch nicht befreien kann. ©Torsten Seewitz, 30.05.2002

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