Sicherlich könnte sich Thomas MacMillan eine glücklichere Kindheit
vorstellen, doch ist das Leben bei seiner schrulligen Großmutter in der
kanadischen Provinzstadt Petrolia auszuhalten. Nachdem seine Eltern sich
getrennt hatten, ließ ihn seine Mutter zurück und versprach ihn zu sich zu
holen, sowie sie eine Arbeit gefunden hat. Monate vergingen und über Monate
vergingen Jahre. Thomas' Mutter meldete sich nur sporadisch, und wenn, dann nur
um sich kurz nach dem Befinden ihres Sohnes zu erkundigen und um die Großmutter
weiter zu vertrösten.
Thomas hätte sicherlich so weiter leben können, manchmal an seine Mutter
gedacht und darüber gegrübelt, wer sein Vater wäre. Doch eines Tages fand er
die Großmutter tot im Wohnzimmer auf. Die Zeit seiner glücklichen,
unbeschwerten Kindheit schien mit einem Mal zu Ende.
Nur wenige Tage vergingen und Thomas' Mutter kam mit einem ihm unbekannten
jungen Mann, um ihn abzuholen. Die Reise in einem klapprigen Auto quer durch
Kanada auf der Suche nach einem neuen Zuhause, entwickelte sich für Thomas und
seine Mutter zu einem Wechselbad der Gefühle.
Rational war ihm klar, dass diese
Person, mit der er das Auto teilte seine Mutter war, doch verbarg er Emotionen
hinter einer Wand aus Skepsis und Neugier. Er konnte es nach Jahren des
vergeblichen Wartens nicht recht glauben, plötzlich mit seiner Mutter in einem
schrottreifen Auto durch die kanadische Provinz zu fahren, ohne Ziel und
zusammen mit einem fremden Mann, der, wie sich später herausstellte, einer der
unzähligen Geliebten der Mutter war.
Ein wenig anders hatte er sich das erste Zusammentreff en in seinen Träumen
schon vorgestellt.
Ziel ihrer turbulenten Fahrt wurde Ottawa. Hier fanden sie Unterschlupf bei
einem Freund der Mutter namens Henry Wing. Übrigens ein äußerst kauziger Typ,
dessen hauptsächliche Beschäftigung in der Erarbeitung eines Lexikons bestand,
in welchem alle Dinge verzeichnet wurden, für die es noch keinen Namen gab.
Henry wurde für Thomas im Laufe der Zeit zu einem Freund, der ihm die Welt der
Bücher und die Magie der Worte näher brachte. Was zwischen Henry und seiner
Mutter ablief, versuchte er zwar zu durchschauen, doch irgendwie war die Welt
der Erwachsenen nicht zu verstehen. War es nun Liebe, die beide verband oder
doch nur Freundschaft. Und wenn es Liebe war, ist Henry dann sein Vater? Andrè
Alexis läßt in "Kindheit", einem bei seinem Erscheinen von der
Kritik viel gelobten Roman, sein alter ego die wundersame Geschichte einer Suche
nach den eigenen Wurzeln in Rückblicken erzählen, unterbrochen von
Reflektionen der Gegenwart; adressiert an eine für den Leser verborgen
bleibende Frau.
Alexis' Stärke liegt in seiner kristallklaren Sprache, die mit nahezu magischer
Anziehungskraft die Geschichte vor dem geistigen Auge des Leser, einem
Bilderbogen gleich, entfächert. Unaufdringlich und doch fesselnd beschreibt
Alexis die Suche Thomas' nach seinem Vater, den er anfangs in Henry gefunden
glaubt.
Doch erzählt "Kindheit" diese Geschichte des Thomas MacMillan nicht
linear. In Rückblicken und mit Hilfe verschiedener Erzähltechniken
strukturiert Alexis seinen Text dergestalt, dass zum Beispiel Fußnoten
bestimmte Bemerkungen über Personen oder Geschehnisse, die für die Handlung
von Bedeutung sind, eingehender erläutern.
So zusammengesetzt, bilden die zahlreichen Erinnerungsbruchstücke das
faszinierend erzählte Bild einer von der Suche nach den eigenen Wurzeln
bestimmten Kindheit. ©Torsten Seewitz, 15.01.2001 |