„Das
Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen“
hat William Faulkner einmal geschrieben. Wie wahr diese
Sentenz ist, muß der Protagonist aus Jakob Arjounis
neuem Roman „Hausaufgaben“ am eigenen Leib erfahren.
Joachim Linde, Deutschlehrer am Reichenheimer
Schiller-Gymnasium, hatte sich gedanklich bereits auf
das bevorstehende Wochenende eingestellt. Er wollte in
die Mark Brandenburg fahren, um auf den Spuren Fontanes
zu wandern. Die Fahrkarte nach Berlin war bereits
gekauft. Doch noch hatte er Unterricht im Oberstufenkurs
„Deutsche Nachkriegsschriftsteller und ihre
Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich“. Routiniert
formulierte er die Frage nach dem Einfluß des Dritten
Reiches auf das Leben der Schüler. Eigentlich dachte
er, die Diskussion schnell abschließen zu können, aber
Heranwachsende sind eben schwer kalkulierbar. So lief
das von ihm angeregte Streitgespräch bald aus der Bahn,
als Schüler begannen, sich die Verstrickung ihrer
Großeltern zur Zeit des Nationalsozialismus
vorzuwerfen. Eine unbedachte Äußerung Lindes brachte
das Fass zu überlaufen und setzte eine Lawine scheinbar
unglücklicher Umstände in Gang.
Die Betonung liegt mit Bedacht auf „scheinbar“, denn
Arjouni lässt seinen Helden die Dinge aus seiner Sicht
erzählen. Nur selten kommen Personen zu Wort, die Lindes
Haltung reflektieren. So erhält der Leser Einblick in die
Gedanken- und Erlebenswelt eines Menschen, um dessen
Unrechtsbewusstsein es nicht all zu gut bestellt ist.
Dieses Vorgehen des Autors ist ungemein tückisch, denn
man muß als Lesender ständig auf der Hut sein, nicht
von der Sichtweise Lindes vereinnahmt zu werden.
Nur stückweise erfährt man, warum die Tochter die Familie verlassen hat, seine Frau
in die Psychiatrie eingeliefert wurde und weshalb sein
Sohn einen schweren Unfall hatte. Vor Linde offenbart
sich ein Abgrund, doch dieser verschließt die Augen vor
der Realität und flüchtet sich in eine
Scheinwelt.
Das subtile Moment in Arjounis Roman besteht vor allem darin, den Leser konsequent
mit dem Protagonisten allein zu lassen, ohne dass der
Autor als moralische Instanz eingreift. So kommt das
Unaussprechbare auf leisen Sohlen. Man spürt als Leser
Lindes Unrecht, möchte eingreifen, um ihn zur Vernunft
zu bringen und bleibt doch nur Zeuge eines heillosen
Selbstbetrugs. Torsten Seewitz, 04.11.04