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Melitta Breznik
"Das Umstellformat"
Luchterhand München 2002
137 S.; 15,00 Euro

Als ihre Großmutter 1943 unter ungeklärten Umständen in einer psychiatrischen Klinik in Hadamar unter menschenunwürdigen Bedingungen starb, hatte sich ihr Ehemann bereits von ihr getrennt, nachdem er jahrelang vergeblich um die Entlassung seiner Frau  gekämpft hatte. In der Familie blieb ihr Schicksal über Jahrzehnte verschwiegen, bis ihre Enkelin im Euthansie - Dokumentationzentrum der Klinik ihr Foto entdeckt. Ein kleines Bild, auf welchem verschwommen die Konturen ihrer Großmutter zu erkennen sind. Es hat den Anschein, als wolle die Geschichte ihre Opfer auch im Nachgang vergessen machen. 
Doch die Erzählerin aus Melitta Brezniks kurzem Prosawerk "Das Umstellformat" begibt sich zusammen mit ihrer Mutter auf eine Spurensuche von Klinik zu Klinik. Immer tiefer tauchen die beiden in eine Vergangenheit ein, die auch zu einem gewissen Teil die ihre ist. Was war damals geschehen? Fakt scheint nur zu sein, dass die Großmutter an Schizophrenie erkrankte, sich von einem "Umstellformat" verfolgt sah. Nahezu hellseherisch könnte man diese Gabe aus heutiger Sicht nennen, betrachtet man den Begriff im historischen Kontext. Wie viele haben sich verstellt, umgestellt, verbogen, mit der Macht der Nazis sympathisiert? 
Bewegend ist der Briefwechsel zwischen dem Ehemann der Großmutter und den jeweiligen Klinikleitungen zu lesen. den Melitta Breznik neben Auszügen aus den Krankenakten zitiert. Jede Bitte des Großvaters wurde abgelehnt, seine Frau nach Hause zu entlassen. Mal war es deren angegriffene Gesundheit, dann wieder Phasen akuter Wahnvorstellungen einhergehend mit aggressivem Verhalten, die eine Entlassung unmöglich machten. Jede noch so hilflos wirkende Drohung des Ehemannes wurde vom Klinikpersonal mit der Notwendigkeit einer sicheren Verwahrung begründet. 
Neben der fast detektivischen Suche nach Lebensspuren der Großmutter, erinnert sich die Erzählerin an Bilder und Episoden aus ihrer Zeit in Norwegen. Dort lebte sie bei Gasteltern, die sie in ihrer Familie aufnahmen wie eine eigene Tochter. Doch etwas war merkwürdig im Verhalten der Gasteltern und hing unausgesprochen als Damoklesschwert in der Luft. Bis den Vater Erinnerungen aus der Zeit der deutschen Besatzung während des Krieges einholen. Plötzlich, Jahrzehnte später, stellt sich die Frage nach der Schuld, sich nicht genügend gewehrt zu haben, sondern stattdessen Teil eines verachtenswerten Regimes geworden zu sein. 
Es ist beeindruckend, wie Melitta Breznik überaus gekonnt die verschiedenen Erinnerungsebenen miteinander verwoben hat und somit ein Kapitel deutscher Geschichte mit Hilfe der Literatur thematisiert, welches gemeinhin nur noch als Gegenstand historischer Forschung dient. Ein mutiges und notwendiges Buch! © Torsten Seewitz, 3.12.2002

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