Zur Startseite

Anatole Broyard
"Verrückt nach Kafka. 
Erinnerungen an Greenwich Village"
Aus dem Amerikanischen von Carrie Asmann und Ulrich Enzensberger
Berlin Verlag Berlin 2001
189 Seiten, 18,00 Euro

Mit "Verrückt nach Kafka" wird dem deutschsprachigen Lesepublikum erstmals ein Buch des amerikanischen Essayisten Anatole Broyard präsentiert und es sei vorweg bemerkt, dieses Stück Literatur ist eine Entdeckung. Glänzend geschrieben und äußerst informativ entfaltet Broyard den Kosmos seiner Zeit in Greenwich Village, dem für Intellektuelle angesagtesten Viertel des New Yorks der Nachkriegszeit. Es gibt wohl keine kulturelle Größe, die nicht, und wenn auch nur für kurze Zeit, ihren Wohnsitz dort hatte.
Kurz nach Ende des Krieges träumt sich Broyard, angewidert von seinem Einsatz als Soldat in Yokohama, in die Welt der Literatur. Er erinnert ganze Passagen poetischer Werke und erliegt der romantischen Vorstellung, ein Antiquariat in seiner Heimatstadt zu eröffnen. Wieder zuhause, entschließt er sich, bei seinen Eltern auszuziehen, um sich eine eigene Wohnung zu suchen. Doch finanzielle Probleme zwingen ihn, das Angebot der jungen  Malerin Sheri Donatti, ein Protegé von Anaïs Nin, anzunehmen, in eine ihrer Wohnungen einzuziehen. Ein Paar, wie es ungleicher nicht seine könnte, eine Liebe zwischen Ekstase und Verzweiflung. Interessant war hier zu lesen, wie sich eines Tages der Schriftsteller William Gaddis auf nahezu peinliche Weise vor Donatti produzierte, um sie von ihrer Liaison mit Broyard abzubringen. Solche und ähnliche Details sind übrigens des öfteren zu lesen, und man mag darüber streiten, ob diese Indiskretionen dem Buch eher zum Vor- oder zum Nachteil gereichen. Auf jeden Fall lassen sie ein Stück Lebensgefühl der damaligen Zeit erahnen, diese unbändige Hunger nach Liebe und Freiheit. 
Und genau zu diesem Lebensgefühl paarte sich der Hunger nach Literatur, nach Bildung. "Alle waren verrückt nach Kafka, die abstrakten Expressionisten und der Revisionismus in der Psychoanalyse war der letzte Schrei.", schreibt Broyard. So war es sicher diese Euphorie, die seinen Traum vom eigenen Buchladen wahr werden ließ. Broyard jedoch war kein guter Verkäufer. Viel lieber sah er es, wenn ein Kunde zwar ein Buch ausgiebig betrachtete, doch dann wieder ins Regal zurückstellte. Zu innig war seine Beziehung, die er zu den einzelnen Bücher aufgebaut hatte. Ein Aspekt, den sicherlich nur jemand versteht, der ein Buch als Gesamtkunstwerk begreift und nicht allein als gebundene Ansammlung bedruckter Seiten.
Neben dieser unbändigen Liebe zur Literatur, die an vielen Stellen des Textes spürbar wird, versucht Anatole Broyard in seinen Memoiren ein Stück bislang verschwiegener Biographie aufzuarbeiten. Denn seit Jahren tauchte immer mal wieder das Gerücht auf, Broyard würde seine wahre Herkunft, die als Kind farbiger Eltern, verschweigen. Ein Geheimnis, welches seine Kinder zum Beispiel erst erfuhren, als er bereits im Sterben lag. Für viele, vor allem amerikanische Intellektuelle eine Offenbarung, obgleich Broyard dieses Detail seiner Biographie an keiner Stelle des Buches explizit erwähnte. 
Anatole Broyard wollte Anerkennung als Schriftsteller und Essayist und nicht wegen seiner Hautfarbe, doch erforderte dieses Verbergen der eigenen Identität viel Kraft. Energie, die ihm letztendlich für den kreativen Prozess des Schreibens fehlte. So brachte er es zwar zu Ruhm als Journalist, eine Karriere als erfolgreicher Schriftsteller blieb ihm jedoch aus diesem Grund versagt. Bedauerlich, beweist doch "Verrückt nach Kafka" und seine frühe Erzählung "What the Cystoscope Said", welch brillanter Stilist er war, dessen Stärke vor allem im ironischen Erzählen lag. ©Torsten Seewitz, 21.08.2001

Buch bei amazon.de bestellen

Kommentar schreiben Kritik ausdrucken

WEITERE BUCHTIPPS FINDEN SIE UNTER BÜCHERBORD - DAS ARCHIV