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Christa Wolf
"leibhaftig"

Luchterhand Literaturverlag München 2002
185 Seiten,  18,00 Euro

Kein langer Satz, sondern einzig das beziehungsreiche Wort "verletzt" bildet den Anfang der neuen Erzählung von Christa Wolf mit dem Titel "leibhaftig". Es ist dies ein für die Autorin ungewöhnlicher Beginn, denn ähnlich dem Stakkato in der Musik werden die Gedanken einer Frau wiedergegeben, die in einem lebensbedrohlichen Zustand in ein nahegelegenes Krankenhaus gefahren wird.  Starke Schmerzen betäuben ihr Bewusstsein, verhindern jeden klaren Gedanken. Einzig das Abtauchen in die fieberhafte Welt der Träume und Erinnerungen verschafft ihr Linderung. "Wohin sie jetzt treibt, dahin reichen die Worte nicht...", schreibt Christa Wolf wunderbar poetisch.
Doch leider schwindet diese poetische Sprache mit fortschreitender Handlung, sie wird sogar nüchtern sachlich, wenn die Protagonisten in ihrem Krankenbett Begebenheiten ihrer Biographie erinnert. Dies mag erzählerisch gewollt sein, doch lässt dieser Ton über weite Strecken den typischen "Christa-Wolf-Sound" vermissen.
Zeitlich ist die Erzählung im Jahr 1987 angesiedelt. Die DDR liegt in ihren letzten Zügen. An allem herrscht Mangel, sogar im Krankenhaus, wenn dem Arzt jedes Paar Handschuhe reißt oder das für die Patientin letztendlich lebensnotwendige Medikament erst aus dem Westen beschafft werden muss.
Beobachtungen, die die Autorin am Rand einfließen lässt und die symptomatisch für das erzählende Werk Christa Wolfs sind. Die eigene Krankheit als metaphorische Entsprechung für die kranke Gesellschaft. Doch ist diese Erzählweise nicht neu, denn bereits in "Nachdenken über Christa T.", "Störfall" oder in der Erzählung "Im Stein" hat sie versucht, dieses Thema derart aufzuarbeiten.
In "leibhaftig" nun nutzt Christa Wolf die akute Erkrankung ihrer Protagonistin, ihre eigene Bewusstseinslage am Ende der DDR zu spiegeln. Gedanken an ehemalige Weggefährten dringen an die Oberfläche; so an Urban, einem Freund und sozialistischen Kader, der sich mehr und mehr der Linie der Partei verschrieben hatte und letztendlich, vollkommen verzweifelt, Selbstmord beging. Auch die Bespitzelung durch die Staatssicherheit wird thematisiert.
Unverkennbar hat Christa Wolf hier einen bestimmten Teil ihrer Biographie schreibend zu verarbeiten versucht. Doch diese nahezu mühelose Entschlüsselung des Textes nimmt ihm auch den entscheidenden Teil seiner poetischen Kraft. Zwar ist die Erzählung reich an Anspielungen auf die griechische Mythologie und die Dichtung der Gegenwart, um Literaturwissenschaftler auf Tage hin zu beschäftigen, doch bleibt das Erzählte merkwürdig verhalten in Erinnerung.
Richtig brillant wird der Text nur in den Passagen wild phantastischer Träume, den Fieberphantasien oder den Gedanken im Narkoserausch. Nämlich dann, wenn nicht von der Gegenwart die Rede ist. Hier ist Christa Wolf wieder die verzaubernde Erzählerin, die den Leser mitnimmt auf eine Reise in seine/ihre Innenwelten. 
Am Ende der Erzählung wird das heimtückische Virus besiegt, die Patientin gesundet langsam und fasst neuen Lebensmut. "Der Spur der Schmerzen nachgehen, [...], ungewappnet, das wäre der Mühe wert. Das wäre des Lebens wert.". 
©Torsten Seewitz, 25.02.2002  

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