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J. M. Coetzee
"Schande"
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
S. Fischer Frankfurt/M. 2000
280 S., 19,00 Euro

Wenn Lebensbahnen ihre gewohnte und vertraute Spur verlassen, suchen wir Antworten auf die Frage nach dem Sinn unseres Lebens. Wir fragen nach dem Wohin, blicken hilflos um uns und greifen nach dem Strohhalm, der Rettung verspricht. Alle Kräfte sammelnd, unternehmen wir den Versuch unser Leben durch einen, meist paradox erscheinenden, Akt der Selbstbestätigung wieder in den Griff zu bekommen.
J.M. Coetzee zeichnet in seinem aktuellen Roman „Schande", für den er 1999 den Booker-Prize erhielt, den Lebensweg des 52jährigen Universitätsprofessors Richard Lurie nach, der nach zwei gescheiterten Ehen und zunehmender beruflicher wie privater Unzufriedenheit versucht, in einem letzten Akt der Selbstbestätigung, seinem Leben zu neuem Sinn zu verhelfen.
Nach dem gescheiterten Versuch, wenigstens durch regelmäßige Besuche bei einer Prostituierten die „Wüste der Woche" mit einer Oase zu bereichern, beginnt er einen verhängnisvolle Affäre mit einer wesentlich jüngeren Studentin Wie nicht anders zu erwarten, wird diese Liaison bekannt und er muss sich vor dem Untersuchungsausschuss seiner Hochschule verantworten. Obgleich er sich schuldig bekennt, lehnt er jede Form von Reue ab und quittiert seinen Dienst.
Überdrüssig der sich überschlagenden Ereignisse flieht Lurie aus der miefigen Enge der Stadt in die Weite des Landes, zur Farm seiner Tochter. Doch die erhoffte Ablenkung will sich nicht einstellen; neue, unerwartete Probleme tauchen auf. Aus der kleinen Tochter ist eine selbstbewusste, junge Frau geworden, die fern der städtischen Zivilisation einen Gegenentwurf zum Leben ihrer Eltern entworfen hat.
Ein brutaler Überfall drei farbiger Jugendlicher lässt verdrängt geglaubte Konflikte zwischen Vater und Tochter neu aufbrechen. Ohnmacht und Macht in ihrer vielschichtigen Bedeutung führen zwei Menschen vor dem Hintergrund der tragischen Vergangenheit Südafrikas an die Grenzen Ihrer Existenz.
Doch beschränkt sich der Autor J.M. Coetzee in seinem Roman nicht auf die Darstellung zwei entgegengesetzter Lebenswelten, auf das Leben in Schande, sondern lässt seinen Protagonisten Raum für Entwicklung und Erkenntnis. Seine klare und unprätentiöse Sprache bewirkt beim Lesen streckenweise Atemlosigkeit und entwickelt einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Durch das konsequente Erzählen im Präsens wird die ausweglose und verzweifelte Lebenssituation Luries für den Leser nachvollziehbar, er wird zu seinem Schatten, zu seinem stillen Beobachter und durchschreitet mit ihm die Abgründe seines Daseins.
Lurie, vom Professor zum Beseitiger von Hundekadavern in einer Tierklinik in der sozialen Hierarchie abgestiegen, ist bei aller Tristesse und Hoffnungslosigkeit doch menschlich gewachsen. Erschreckend wirkt, mit welcher Demut Lurie seine neue Position im Leben eingenommen hat. Die Achtung vor der tierischen Kreatur lässt ihn sein eigenes Leben weniger bedeutungsvoll erscheinen. Ein schockierendes Ende des Romans, welches den Leser mit einer sprachlos machenden Betroffenheit in die Wirklichkeit entlässt.
© Torsten Seewitz, 16.05.2000

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