Wenn
Lebensbahnen ihre gewohnte und vertraute Spur verlassen,
suchen wir Antworten auf die Frage nach dem Sinn unseres
Lebens. Wir fragen nach dem Wohin, blicken hilflos um
uns und greifen nach dem Strohhalm, der Rettung
verspricht. Alle Kräfte sammelnd, unternehmen wir den
Versuch unser Leben durch einen, meist paradox
erscheinenden, Akt der Selbstbestätigung wieder in den
Griff zu bekommen.
J.M. Coetzee zeichnet in seinem aktuellen Roman
„Schande", für den er 1999 den Booker-Prize
erhielt, den Lebensweg des 52jährigen Universitätsprofessors
Richard Lurie nach, der nach zwei gescheiterten Ehen und
zunehmender beruflicher wie privater Unzufriedenheit
versucht, in einem letzten Akt der Selbstbestätigung,
seinem Leben zu neuem Sinn zu verhelfen.
Nach
dem gescheiterten Versuch, wenigstens durch regelmäßige
Besuche bei einer Prostituierten die „Wüste der
Woche" mit einer Oase zu bereichern, beginnt er
einen verhängnisvolle Affäre mit einer wesentlich jüngeren
Studentin Wie nicht anders zu erwarten, wird diese
Liaison bekannt und er muss sich vor dem
Untersuchungsausschuss seiner Hochschule verantworten.
Obgleich er sich schuldig bekennt, lehnt er jede Form
von Reue ab und quittiert seinen Dienst.
Überdrüssig der sich überschlagenden Ereignisse
flieht Lurie aus der miefigen Enge der Stadt in die
Weite des Landes, zur Farm seiner Tochter. Doch die
erhoffte Ablenkung will sich nicht einstellen; neue,
unerwartete Probleme tauchen auf. Aus der kleinen
Tochter ist eine selbstbewusste, junge Frau geworden,
die fern der städtischen Zivilisation einen
Gegenentwurf zum Leben ihrer Eltern entworfen hat.
Ein brutaler Überfall drei farbiger Jugendlicher lässt
verdrängt geglaubte Konflikte zwischen Vater und
Tochter neu aufbrechen. Ohnmacht und Macht in ihrer
vielschichtigen Bedeutung führen zwei Menschen vor dem
Hintergrund der tragischen Vergangenheit Südafrikas an
die Grenzen Ihrer Existenz.
Doch beschränkt sich der Autor J.M. Coetzee in seinem
Roman nicht auf die Darstellung zwei entgegengesetzter
Lebenswelten, auf das Leben in Schande, sondern lässt
seinen Protagonisten Raum für Entwicklung und
Erkenntnis. Seine klare und unprätentiöse Sprache
bewirkt beim Lesen streckenweise Atemlosigkeit und
entwickelt einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen
kann. Durch das konsequente Erzählen im Präsens wird
die ausweglose und verzweifelte Lebenssituation Luries für
den Leser nachvollziehbar, er wird zu seinem Schatten,
zu seinem stillen Beobachter und durchschreitet mit ihm
die Abgründe seines Daseins.
Lurie, vom Professor zum Beseitiger von Hundekadavern in
einer Tierklinik in der sozialen Hierarchie abgestiegen,
ist bei aller Tristesse und Hoffnungslosigkeit doch
menschlich gewachsen. Erschreckend wirkt, mit welcher
Demut Lurie seine neue Position im Leben eingenommen
hat. Die Achtung vor der tierischen Kreatur lässt ihn
sein eigenes Leben weniger bedeutungsvoll erscheinen.
Ein schockierendes Ende des Romans, welches den Leser
mit einer sprachlos machenden Betroffenheit in die
Wirklichkeit entlässt.
© Torsten Seewitz, 16.05.2000 |