Am
Anfang war nur dieser verwirrende Duft des Ligusters,
der den Erzähler an seine Kindheit erinnerte. Ein
Geruch, zugleich süßlich und wenig ordinär, doch mit
einer imaginären Kraft, die längst verloren geglaubte
Erinnerungen aus den Tiefen des Bewußtseins
hervorzuholen vermochte.
Seine Gedanken gehen zurück in eine Zeit, die
mittlerweile ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Sie
umkreisen jene Tage der Kindheit, die gemeinhin als
unbeschwert gelten und im Rückblick betrachtet, wohl
wenig spektakulär verliefen. Vom großen Krieg, den
Deutschland gegen der Rest der Welt führte, war in dem
kleinen Londoner Vorort kaum etwas zu spüren. Nur eine
Ruine auf einem benachbarten Grundstück zeugte von der
permanenten Gefahr.
Stephen Wheatley, so heißt der Protagonist des Romans,
verbrachte seine Freizeit in diesem Sommer häufig mit
Keith, einem gleichaltrigen Jungen aus der
Nachbarschaft. Beider Lieblingsspielplatz war die
bereits erwähnte Ruine, in der sie eine Höhle bauten,
um dort ihre geheimen Schätze in einer alten Blechkiste
versteckt zu halten. Zudem konnte man von dort die
gesamte Straße überblicken und ungestört die Anwohner
der umliegenden Häuser beobachten.
Insgeheim schämte sich Stephen für seine Familie, denn
sie war so anders als die seines Freundes.
Sein wortkarger Vater ging einer scheinbar langweiligen
Beschäftigung in einem Büro nach und von seinem großen
Bruder erntete er tagaus, tagein nur dumme Sprüche und
Spötteleien. Keith’ Zuhause hingegen war so ganz
anders. Vor allem dessen Vater beeindruckte Stephen,
obwohl dieser in stets ignorierte. Doch er besaß ein
Bajonett, mit welchem er im Ersten Weltkrieg fünf
deutsche Soldaten tötete und seinen Sohn redete er
stets mit „Freundchen“ an. Daß Keith von seinem
Vater regelmäßig verprügelt wurde, schien seine
Faszination nicht zu mindern.
Die Tage dieses Kriegssommers verliefen immer gleich.
Nach der Schule trafen sich Stephen und Keith zum
Spielen, erkundeten die Umgebung oder beobachteten
heimlich das Geschehen auf der Straße. Bis zu jenem
Tag, an welchem, Keith die verhängnisvollen sechs Worte
aussprach: „Meine Mutter ist eine deutsche Spionin“.
Ein Satz, so leicht dahingesagt, doch mit einer
unvorstellbaren Wirkung.
Fortan verfolgten die beiden Jungen jeden schritt der
Mutter, schnüffelten in ihrem privaten Kalender und
verfolgten sie durch den Ort, ohne zu ahnen, auf welch
bedrohliches Spiel sie sich eingelassen hatten.
Der britische Schriftsteller Michael Frayn entwickelt
aus diesem scheinbar harmlos dahingesagten Satz des
kleinen Keith eine spannende und manchmal verwirrende
Geschichte über das Hereinbrechen der Erwachsenenwelt
in die unschuldige Welt des Kindes. Er versteht es glänzend,
in die ambivalente Gefühlswelt seines Protagonisten
Stephen einzutauchen und seine verwirrend neuen
Erfahrungen darzustellen. Mühelos wechselt er zwischen
der Zeitebene des Erzählers, der sich in der Gegenwart
auf die Suche nach den Spuren seiner Kindheit begibt und
der Zeitebene der Kindheitserlebnisse. Gerade diese erzählerische
Gratwanderung, die Gedankenwelt Stephens glaubhaft
wiederzugeben, meistert Frayn auf beindruckende Weise.
Hier spricht kein „erwachsenes“, sondern ein
zutiefst verunsichertes Kind auf der Suche nach seinem
neuen Platz im Leben.
Mit „Das Spionagespiel“ hat Michael Frayn bewiesen,
daß er nicht nur zu den herausragenden Dramatikern,
sondern auch zu den bemerkenswertesten Schriftstellern
seiner Heimat gezählt werden muß. Torsten Seewitz,
09.05.2004 |