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Michael Frayn
"Das Spionagespiel"
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
Carl Hanser Verlag München 2004
223 S.; 19,90 Euro

Am Anfang war nur dieser verwirrende Duft des Ligusters, der den Erzähler an seine Kindheit erinnerte. Ein Geruch, zugleich süßlich und wenig ordinär, doch mit einer imaginären Kraft, die längst verloren geglaubte Erinnerungen aus den Tiefen des Bewußtseins hervorzuholen vermochte.
Seine Gedanken gehen zurück in eine Zeit, die mittlerweile ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Sie umkreisen jene Tage der Kindheit, die gemeinhin als unbeschwert gelten und im Rückblick betrachtet, wohl wenig spektakulär verliefen. Vom großen Krieg, den Deutschland gegen der Rest der Welt führte, war in dem kleinen Londoner Vorort kaum etwas zu spüren. Nur eine Ruine auf einem benachbarten Grundstück zeugte von der permanenten Gefahr.
Stephen Wheatley, so heißt der Protagonist des Romans, verbrachte seine Freizeit in diesem Sommer häufig mit Keith, einem gleichaltrigen Jungen aus der Nachbarschaft. Beider Lieblingsspielplatz war die bereits erwähnte Ruine, in der sie eine Höhle bauten, um dort ihre geheimen Schätze in einer alten Blechkiste versteckt zu halten. Zudem konnte man von dort die gesamte Straße überblicken und ungestört die Anwohner der umliegenden Häuser beobachten.
Insgeheim schämte sich Stephen für seine Familie, denn sie war so anders als die seines Freundes. Sein wortkarger Vater ging einer scheinbar langweiligen Beschäftigung in einem Büro nach und von seinem großen Bruder erntete er tagaus, tagein nur dumme Sprüche und Spötteleien. Keith’ Zuhause hingegen war so ganz anders. Vor allem dessen Vater beeindruckte Stephen, obwohl dieser in stets ignorierte. Doch er besaß ein Bajonett, mit welchem er im Ersten Weltkrieg fünf deutsche Soldaten tötete und seinen Sohn redete er stets mit „Freundchen“ an. Daß Keith von seinem Vater regelmäßig verprügelt wurde, schien seine Faszination nicht zu mindern.
Die Tage dieses Kriegssommers verliefen immer gleich. Nach der Schule trafen sich Stephen und Keith zum Spielen, erkundeten die Umgebung oder beobachteten heimlich das Geschehen auf der Straße. Bis zu jenem Tag, an welchem, Keith die verhängnisvollen sechs Worte aussprach: „Meine Mutter ist eine deutsche Spionin“. Ein Satz, so leicht dahingesagt, doch mit einer unvorstellbaren Wirkung.
Fortan verfolgten die beiden Jungen jeden schritt der Mutter, schnüffelten in ihrem privaten Kalender und verfolgten sie durch den Ort, ohne zu ahnen, auf welch bedrohliches Spiel sie sich eingelassen hatten.
Der britische Schriftsteller Michael Frayn entwickelt aus diesem scheinbar harmlos dahingesagten Satz des kleinen Keith eine spannende und manchmal verwirrende Geschichte über das Hereinbrechen der Erwachsenenwelt in die unschuldige Welt des Kindes. Er versteht es glänzend, in die ambivalente Gefühlswelt seines Protagonisten Stephen einzutauchen und seine verwirrend neuen Erfahrungen darzustellen. Mühelos wechselt er zwischen der Zeitebene des Erzählers, der sich in der Gegenwart auf die Suche nach den Spuren seiner Kindheit begibt und der Zeitebene der Kindheitserlebnisse. Gerade diese erzählerische Gratwanderung, die Gedankenwelt Stephens glaubhaft wiederzugeben, meistert Frayn auf beindruckende Weise. Hier spricht kein „erwachsenes“, sondern ein zutiefst verunsichertes Kind auf der Suche nach seinem neuen Platz im Leben.
Mit „Das Spionagespiel“ hat Michael Frayn bewiesen, daß er nicht nur zu den herausragenden Dramatikern, sondern auch zu den bemerkenswertesten Schriftstellern seiner Heimat gezählt werden muß. Torsten Seewitz, 09.05.2004

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