Eigentlich
begann an diesem 29. September 1997 alles so wie immer. Der
Erzähler der Geschichte "Die Meldung des Tages",
Vertreter einer Fleischerei, ist auf der Autobahn unterwegs zu
Kunden. Es herrschte dichter Nebel und in Gedanken versunken
hätte er beinahe die Ausfahrt verpasst. Nur wenig später
erreichte ihn ein Anruf seiner besorgten Frau, die sich
vergewissern wollte, dass ihm bei der Massenkarambolage auf A
13, seiner Fahrstrecke, auch nichts passiert sei. Von einem
Unfall habe er nichts mitbekommen, erwiderte er
beruhigend.
Erst
in den Abendnachrichten verfolgte er gebannt die Berichte, die
Bilder von demolierten Autos und zahlreichen Toten zeigten.
Ein Verdacht regte sich in ihm, den er jedoch selbst
beschwichtigend verdrängte. Erst als ein Lkw-Fahrer von einem
Autofahrer erzählte, der auf der Autobahn rückwärts fuhr,
um die verpasste Abfahrt zu erreichen, wurde seine bangen
Vermutungen Gewissheit. Er war der Geisterfahrer.
Mit solch einem unerwarteten Finale enden viele der
Erzählungen in Anna Gavaldas Debüt
"Ich wünsche mir, daß irgendwo jemand auf mich wartet",
das in Frankreich wochenlang auf den Bestsellerlisten stand.
Ob sie von der bedrückenden Stille während der Autofahrt
eines Ehepaar erzählt, welches sich nach vielen Jahren nichts
mehr zu sagen hat, oder von der Frau, die ihre Fehlgeburt
verschweigt, um die Hochzeitsfeier ihrer Kusine nicht zu
verderben, immer stehen zwischenmenschliche Beziehungen im
Vordergrund, die teils an sich teils an der Gesellschaft
kranken. Manchmal sind es nur kleine Einblicke in das Leben
anderer, jedoch mit einem großen Wiedererkennungswert, so
dass man beim Lesen ausrufen möchte "Ja, genauso habe
ich es selbst erlebt!" oder wenn nicht selbst erlebt, so
doch von Bekannten gehört. Galvada versteht es so gefühlvoll
wie fesselnd zu schreiben, dass einem viele der Geschichten
noch länger in Erinnerung bleiben. Sie schreibt in einer
klaren unprätentiösen Sprache, manchmal auch gefühlvoll
poetisch, jedoch immer mit einem unverstellten Blick auf die
Wirklichkeit. Selbst nebensächlichste Dinge versteht sie
ironisch und mit der ihr eigenen Art von Humor auf den Punkt
zu bringen. Als Leser hegt man selbst dann noch Verständnis
für die Helden der Erzählung, wenn, wie im Falle der
vergewaltigten Tierärztin in "Catgut", diese in
einem Akt von Selbstjustiz kurzerhand ihrer besoffenen
Peiniger kastriert und dem Brutalsten von ihnen besonders
verziert.
Bleibt abzuwarten, ob Anna Galvada die hohen Erwartungen an
ihre Erzählkunst mit ihrem ersten Roman, der in diesem
Frühjahr erschien, erfüllen kann.
©Torsten Seewitz,
22.04.2002 |