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Anna Gavalda
"Ich wünsche mir, daß irgendwo jemand auf mich wartet"
Aus dem Französischen von Ina Kronenberger
Hanser Verlag München 2002
168 S., 14,90 Euro

Eigentlich begann an diesem 29. September 1997 alles so wie immer. Der Erzähler der Geschichte "Die Meldung des Tages", Vertreter einer Fleischerei, ist auf der Autobahn unterwegs zu Kunden. Es herrschte dichter Nebel und in Gedanken versunken hätte er beinahe die Ausfahrt verpasst. Nur wenig später erreichte ihn ein Anruf seiner besorgten Frau, die sich vergewissern wollte, dass ihm bei der Massenkarambolage auf A 13, seiner Fahrstrecke, auch nichts passiert sei. Von einem Unfall habe er nichts mitbekommen, erwiderte er beruhigend. 
Erst in den Abendnachrichten verfolgte er gebannt die Berichte, die Bilder von demolierten Autos und zahlreichen Toten zeigten. Ein Verdacht regte sich in ihm, den er jedoch selbst beschwichtigend verdrängte. Erst als ein Lkw-Fahrer von einem Autofahrer erzählte, der auf der Autobahn rückwärts fuhr, um die verpasste Abfahrt zu erreichen, wurde seine bangen Vermutungen Gewissheit. Er war der Geisterfahrer.
Mit solch einem unerwarteten Finale enden viele der Erzählungen in Anna Gavaldas Debüt "Ich wünsche mir, daß irgendwo jemand auf mich wartet", das in Frankreich wochenlang auf den Bestsellerlisten stand. Ob sie von der bedrückenden Stille während der Autofahrt eines Ehepaar erzählt, welches sich nach vielen Jahren nichts mehr zu sagen hat, oder von der Frau, die ihre Fehlgeburt verschweigt, um die Hochzeitsfeier ihrer Kusine nicht zu verderben, immer stehen zwischenmenschliche Beziehungen im Vordergrund, die teils an sich teils an der Gesellschaft kranken. Manchmal sind es nur kleine Einblicke in das Leben anderer, jedoch mit einem großen Wiedererkennungswert, so dass man beim Lesen ausrufen möchte "Ja, genauso habe ich es selbst erlebt!" oder wenn nicht selbst erlebt, so doch von Bekannten gehört. Galvada versteht es so gefühlvoll wie fesselnd zu schreiben, dass einem viele der Geschichten noch länger in Erinnerung bleiben. Sie schreibt in einer klaren unprätentiösen Sprache, manchmal auch gefühlvoll poetisch, jedoch immer mit einem unverstellten Blick auf die Wirklichkeit. Selbst nebensächlichste Dinge versteht sie ironisch und mit der ihr eigenen Art von Humor auf den Punkt zu bringen. Als Leser hegt man selbst dann noch Verständnis für die Helden der Erzählung, wenn, wie im Falle der vergewaltigten Tierärztin in "Catgut", diese in einem Akt von Selbstjustiz kurzerhand ihrer besoffenen Peiniger kastriert und dem Brutalsten von ihnen besonders verziert. 
Bleibt abzuwarten, ob Anna Galvada die hohen Erwartungen an ihre Erzählkunst mit ihrem ersten Roman, der in diesem Frühjahr erschien, erfüllen kann.
©Torsten Seewitz, 22.04.2002

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