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Thomas Glavinic
"Die Arbeit der Nacht"
Carl Hanser Verlag München 2006
394 S.; 21,50 Euro

Kann man einen Roman von knapp 400 Seiten und nur einer handelnden Person mit anhaltendem Interesse lesen? Man kann und man muss sogar! Denn der österreichische Autor Thomas Glavinic meistert mit seinem Buch  „Die Arbeit der Nacht“ genau diese Herausforderung für den Leser mit Bravour.
Zwar hat sich im vergangenen Jahr der Schriftsteller Thomas Lehr mit „42“ an einem ähnlichen Thema versucht, indem er die Zeit anhält und seine Figuren wie in einer Luftblase in der Welt umherirren lässt, doch geht Glavinic einen Schritt weiter. Er entwirft ein wahres Alptraumszenario, nämlich eine Welt ohne jegliches Leben.
Jonas, einziger Protagonist des Romans, muss eines Morgens erkennen, dass er in einer Stadt lebt, die entvölkert und vom Rest der Zivilisation abgeschnitten scheint. Vergeblich versucht er seine Freundin per Telefon zu erreichen. Fernsehen, Radio und Internet beantworten seine Suche nach einer Erklärung lediglich mit einem Rauschen.
Zunehmend verzweifelt irrt er in seiner Stadt umher, ständig auf der Suche nach anderen Menschen. Doch alles ist leer und still, unheimlich still. Allmählich muss Jonas erkennen, dass er vollkommen auf sich gestellt ist. Jeder Versuch, Antworten auf diese bizarre Situation zu finden, führt in eine Sackgasse. Zu unfassbar ist der Gedanke, eventuell einziger Überlebender eines Unglücks zu sein. Doch welches Unglücks?
Minutiös lässt Glavinic den Leser teilhaben an einer atemlosen Suche, die immer mehr zu einer Reise in die Seele von Jonas wird. Dieser fährt an Stätten seiner Kindheit und Jugend, richtet die alte Wohnung seiner Eltern wieder ein und beobachtet sich selbst, indem er nachts seinen Schlaf filmt. Tags darauf schaut er sich die Videobänder an, immer in der Hoffnung doch ein Lebenszeichen eines anderen Menschen zu entdecken.
Je länger er allein lebt, desto mehr Distanz stellt er zu der Person fest, die da im Bett liegt, in manchen Nächten unvermittelt aufsteht und ausdruckslos in die Kamera starrt.
Diese Passagen zählen zu den spannungsgeladensten, die einem beim Lesen einen Schauer über den Rücken treiben und einen unheimlichen Sog entwickeln. Ist da vielleicht doch jemand, der Jonas beobachtet? 
Unbestritten zählt „Die Arbeit der Nacht“ zu den herausragendsten und interessantesten Neuerscheinungen des diesjährigen Bücherherbstes, ja vielleicht sogar der letzten Jahre. Denn Thomas Glavinic gelingt das Kunststück, die grundlegende philosophische Frage nach dem Wesen des Menschen literarisch äußerst anspruchsvoll zu thematisieren und aufzuzeigen, wie hoffnungslos verloren wir in einer Welt ohne soziale Bezüge wären. 
Torsten Seewitz, 13.09.2006 

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