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Ulla Hahn
"Unscharfe Bilder"
Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart München 2003
278 S.;  18,90 Euro

Auch knapp sechzig Jahre nach Ende des 2.Weltkrieges ruhen die Erinnerungen nicht an diese schreckensreiche Zeit, die Millionen Menschen das Leben kostete und unzählige, auf Lebenszeit traumatisierte Menschen zurückgelassen hat.
Gerade in den vergangenen Monaten wurden vermehrt historische und literarische Werke veröffentlicht, die sich (wiederholt) mit der Rolle der Deutschen während dieser Zeit auseinandersetzen, sie jedoch nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer sehen. Gemeint sind hier jedoch nicht diejenigen, die als Kriegsverbrecher alle Schuld auf sich geladen, sondern die sogenannten „kleinen Leute“, die zum Beispiel in der Wehrmacht nur „ihre Pflicht“ getan haben.
Vielleicht brauchte es diese vielen Jahrzehnte, um den nötigen Abstand für eine objektivere Betrachtung der Frage an der Mitschuld, gerade aus literarischer Sicht, zu gewinnen. Die „Täter“ oder „Opfer“ haben mittlerweile ein Lebensalter erreicht, welches sie als Zeitzeugen rar werden lässt. Um so wichtiger ist es, ihre Stimmen zu bewahren, um den nachfolgenden Generationen ihr Schicksal als Mahnung vor Augen zu führen. 
Unter diesem Aspekt muß man auch Ulla Hahns neues Buch „Unscharfe Bilder“ betrachten, welches sie nun, nach ihrem wegen seiner erzählerischen Brillanz beeindruckenden und zu Recht erfolgreichen Roman „Das verborgene Wort“, vorgelegt hat. 
In Ulla Hahns Phantasie ist es Katja, eine engagierte Lehrerin, die betroffen von der Ausstellung „Verbrechen im Osten“, ihren Vater Hans Musbach auf seine Rolle im 2. Weltkrieg hin befragt. Denn bislang wußte sie nur soviel, dass er als Angehöriger der Wehrmacht am Russlandfeldzug 1942 beteiligt war. Doch über Details hat ihr Vater, der mittlerweile in einem Seniorenheim lebt, nie gesprochen. Die Unterhaltungen verebbten sofort, sobald das Thema Krieg berührt wurde. Um ihren Vater dennoch zum Reden zu bringen, konfrontierte sie ihn mit dem Katalog der Ausstellung und erhoffte sich, dass die teils grauenvollen Fotographien seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen. Allmählich und äußerst mühsam taucht der greise Mann in die Zeit des Krieges ein, anfangs den drängenden Fragen seiner Tochter ausweichend, später jedoch beinah in Erinnerungen schwelgend.  Die Geschichte, die Katja zu hören bekommt, entspricht jedoch so gar nicht dem erwarteten Beichtgespräch, sondern offenbart ihr einen Blick hinter die grässliche Maske des Krieges. Es waren dies Blicke in eine Welt, die geprägt war von falschem Ehrgeiz, dem fatalen Wunsch, an etwas Bedeutendem teilzunehmen, den Feind zu besiegen, aber auch von tiefer Freundschaft und schmerzlichen Verlusten.
Je mehr sich Hans Musbach seinen Erinnerungen hingab, um so ungeduldiger wurde seine Tochter. Auf einem der Fotos in dem Ausstellungskatalog, unscharf zwar,  meinte sie ihren Vater erkannt zu haben. Doch das erhoffte Bekenntnis zur Schuld oder Mitschuld mochte der Vater nicht abgeben. Vielmehr musste sie erleben, wie ihr Vater physisch und psychisch leidend Bild für Bild dem Dunkel des Vergessens entriß, doch wesentliche Details nur schwerlich ins Gedächtnis rufen konnte oder wollte.
Äußerst genau versteht es Ulla Hahn, die verzweifelte Suche ihrer beiden Protagonisten nach der Wahrheit sprachlich abzubilden. Gerade in den Passagen, in denen Katja ihren Vater mit Fragen nach seiner Mitschuld bedrängt, ist die beklemmende Spannung zwischen beiden förmlich spürbar. Es ist eine ganz leise Geschichte, die die Autorin hier erzählt, so wie sie wahrscheinlich tausendfach von anderen Wehrmachtsoldaten erlebt wurde. Wiederum ist sie auch ganz individuell geprägt. Sie versucht dem Schrecken des Krieges eine Stimme zu geben, den Menschen hinter der Kriegsmaschinerie zu zeigen. Nicht um deren Taten zu entschuldigen, nein, sondern vielmehr um eine Wirklichkeit widerzuspiegeln, die zwar individuell geprägt war, sich jedoch in das große, bekannte Historienbild einfügt. Sie zeigt, was Menschen fühlten und dachten, die für den Größenwahn eines Diktators ihr Leben riskierten, teils aus Überzeugung, teils, weil ihnen keine andere Wahl blieb.
Es sind die unscharfen Bilder, die wir brauchen, zitiert Ulla Hahn eingangs den Philosophen Ludwig Wittgenstein, damit so etwas wie Erinnerung in Gang gesetzt werden kann und nicht die Schärfe einer Fotografie, die nur ein scheinbares Bild von Wahrheit zu vermitteln vermag.
©Torsten Seewitz, 25.10.2003

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