Auch
knapp sechzig Jahre nach Ende des 2.Weltkrieges ruhen
die Erinnerungen nicht an diese schreckensreiche Zeit,
die Millionen Menschen das Leben kostete und unzählige,
auf Lebenszeit traumatisierte Menschen zurückgelassen
hat.
Gerade
in den vergangenen Monaten wurden vermehrt historische
und literarische Werke veröffentlicht, die sich
(wiederholt) mit der Rolle der Deutschen während dieser
Zeit auseinandersetzen, sie jedoch nicht nur als Täter,
sondern auch als Opfer sehen. Gemeint sind hier jedoch
nicht diejenigen, die als Kriegsverbrecher alle Schuld
auf sich geladen, sondern die sogenannten „kleinen
Leute“, die zum Beispiel in der Wehrmacht nur „ihre
Pflicht“ getan haben.
Vielleicht
brauchte es diese vielen Jahrzehnte, um den nötigen
Abstand für eine objektivere Betrachtung der Frage an
der Mitschuld, gerade aus literarischer Sicht, zu
gewinnen. Die „Täter“ oder „Opfer“ haben
mittlerweile ein Lebensalter erreicht, welches sie als
Zeitzeugen rar werden lässt. Um so wichtiger ist es,
ihre Stimmen zu bewahren, um den nachfolgenden
Generationen ihr Schicksal als Mahnung vor Augen zu führen.
Unter
diesem Aspekt muß man auch Ulla Hahns neues Buch
„Unscharfe Bilder“ betrachten, welches sie nun, nach
ihrem wegen seiner erzählerischen Brillanz
beeindruckenden und zu Recht erfolgreichen Roman „Das
verborgene Wort“, vorgelegt hat.
In
Ulla Hahns Phantasie ist es Katja, eine engagierte
Lehrerin, die betroffen von der Ausstellung
„Verbrechen im Osten“, ihren Vater Hans Musbach auf
seine Rolle im 2. Weltkrieg hin befragt. Denn bislang wußte
sie nur soviel, dass er als Angehöriger der Wehrmacht
am Russlandfeldzug 1942 beteiligt war. Doch über
Details hat ihr Vater, der mittlerweile in einem
Seniorenheim lebt, nie gesprochen. Die Unterhaltungen
verebbten sofort, sobald das Thema Krieg berührt wurde.
Um ihren Vater dennoch zum Reden zu bringen,
konfrontierte sie ihn mit dem Katalog der Ausstellung
und erhoffte sich, dass die teils grauenvollen
Fotographien seiner Erinnerung auf die Sprünge helfen.
Allmählich und äußerst mühsam taucht der greise Mann
in die Zeit des Krieges ein, anfangs den drängenden
Fragen seiner Tochter ausweichend, später jedoch beinah
in Erinnerungen schwelgend. Die
Geschichte, die Katja zu hören bekommt, entspricht
jedoch so gar nicht dem erwarteten Beichtgespräch,
sondern offenbart ihr einen Blick hinter die grässliche
Maske des Krieges. Es waren dies Blicke in eine Welt,
die geprägt war von falschem Ehrgeiz, dem fatalen
Wunsch, an etwas Bedeutendem teilzunehmen, den Feind zu
besiegen, aber auch von tiefer Freundschaft und
schmerzlichen Verlusten.
Je mehr sich Hans Musbach seinen Erinnerungen hingab, um
so ungeduldiger wurde seine Tochter. Auf einem der Fotos
in dem Ausstellungskatalog, unscharf zwar,
meinte sie ihren Vater erkannt zu haben. Doch das
erhoffte Bekenntnis zur Schuld oder Mitschuld mochte der
Vater nicht abgeben. Vielmehr musste sie erleben, wie
ihr Vater physisch und psychisch leidend Bild für Bild
dem Dunkel des Vergessens entriß, doch wesentliche
Details nur schwerlich ins Gedächtnis rufen konnte oder
wollte.
Äußerst genau versteht es Ulla Hahn, die verzweifelte
Suche ihrer beiden Protagonisten nach der Wahrheit
sprachlich abzubilden. Gerade in den Passagen, in denen
Katja ihren Vater mit Fragen nach seiner Mitschuld bedrängt,
ist die beklemmende Spannung zwischen beiden förmlich
spürbar. Es ist eine ganz leise Geschichte, die die
Autorin hier erzählt, so wie sie wahrscheinlich
tausendfach von anderen Wehrmachtsoldaten erlebt wurde.
Wiederum ist sie auch ganz individuell geprägt. Sie
versucht dem Schrecken des Krieges eine Stimme zu geben,
den Menschen hinter der Kriegsmaschinerie zu zeigen.
Nicht um deren Taten zu entschuldigen, nein, sondern
vielmehr um eine Wirklichkeit widerzuspiegeln, die zwar
individuell geprägt war, sich jedoch in das große,
bekannte Historienbild einfügt. Sie zeigt, was Menschen
fühlten und dachten, die für den Größenwahn eines
Diktators ihr Leben riskierten, teils aus Überzeugung,
teils, weil ihnen keine andere Wahl blieb.
Es sind die unscharfen Bilder, die wir brauchen, zitiert
Ulla Hahn eingangs den Philosophen Ludwig Wittgenstein,
damit so etwas wie Erinnerung in Gang gesetzt werden
kann und nicht die Schärfe einer Fotografie, die nur
ein scheinbares Bild von Wahrheit zu vermitteln vermag.
©Torsten
Seewitz, 25.10.2003
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