Zur Startseite

Henning Mankell
"Der Chronist der Winde"
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel
Paul Zsolnay Verlag Wien 2000
272 S., 19,90 Euro

Ein Kind stirbt einsam auf dem Dach einer alten Bäckerei. Zwei Pistolenkugel stecken in seinem kleinen Körper. Sein Lager - eine alte Matratze im Schatten eines Schornsteins. Neben dem sterbenden Kind, mit Namen Nelio, sitzt ein Mann, der Bäcker José. Er pflegt das Kind notdürftig, wechselt den blutdurchtränkten Verband, gibt ihm zu trinken und hört den Geschichten des sterbenden Jungen zu.
Diese bizarr anmutende Szenerie beschreibt der bekannte schwedische Schriftsteller Henning Mankell in seinem, bereits 1995 verfaßten, Roman "Der Chronist der Winde". Mankell, vor allem als Autor von Kriminalromanen bekannt, lebt die Hälfte eines Jahres als Theaterregisseur in Mosambik. Für seinen Roman wählte er dieses Mal einen Stoff aus der eigenen Erlebenswelt - das Leben der Straßenkinder Maputos.
Mit dem zehnjährigen Nelio schuf Mankell eine charismatische Romanfigur, lebenserfahren und weise wie ein Greis, zart und verwundbar wie ein Kind. In neun Nächten erzählt Nelio dem Bäcker José, unterbrochen von Fieberschüben, seine tragische Lebensgeschichte, die mit einem brutalen Überfall marodierender Banditen auf sein Dorf begann. Nelio mußte miterleben, wie seine kleine Schwester in einem Mörser zerstampft und seinem Onkel der Kopf abgeschlagen wird. Als er selbst einen Verwandten erschießen soll, tötet er einen der Banditen und flieht.
Seine Flucht führt ihn nach endlosen Wanderungen und märchenhaften Begegnungen mit dem Zwerg Yabu Bata und einer alten Echse, in die große Stadt. Orientierungslos irrt er durch die Straßen, gerät an einen Betrüger, flieht wieder und findet letztendlich in einem, noch aus der Kolonialzeit stammenden Reiterstandbild, Unterschlupf. Er hatte sein neues "Zuhause" gefunden. Zu seiner neuen "Familie" wird eine Gruppe von Straßenkindern, die ihn sogar später als ihren Anführer anerkennen.
Nicht eines der Straßenkinder hatte eine glückliche Kindheit. Viele sind mit Hunger und Armut, körperlicher und sexueller Gewalt aufgewachsen. Sie leben am Rand der Gesellschaft, aufgewachsen in Familien, die sie verstoßen haben. Und dennoch wird ihr Leben von einer ungeheuren Energie getragen. Sie geben sich nicht auf, ihr Halt ist die Gemeinschaft. Sie trägt den Einzelnen bis zu seinem Tod.
Doch wird der Roman nicht nur durch Schilderungen des täglichen Leids und Elends der Kinder bestimmt. Mankell gewinnt auch den tragsichen Seiten des Lebens eine gewisse Komik ab, wenn er zum Beispiel Mandioco beschreibt, der in seinen Hosentaschen Zwiebeln und Tomaten heranzieht, oder als die Kinder unentdeckt die Suite des Präsidenten in seinem Palast zu nächtlicher Stunde aufsuchen, um ihm eine tote Eidechse auf den Nachtschrank zu legen.
Zu schnell jedoch erstirbt jedes Lächeln, liegt doch über all den Geschichten Nelios die Erwartung seines nahenden Todes. Was man beim Lesen leicht vergißt, hier erzählt ein Zehnjähriger seine Biographie, der vor dem Hintergrund seiner traumatischen Erlebnisse dennoch versucht hat, seinen Platz im Leben zu finden.
Henning Mankell hat mit dem "Chronist der Winde" einen Roman verfaßt, der dem Leser, ob seiner sprachlichen Kraft und der beeindruckenden Charaktere, lange Zeit in Erinnerung bleiben wird. Er hat den vielen namenlosen Straßenkindern eine Identität gegeben. Indem er von ihrem Schicksal erzählt, läßt er den Leser teilhaben an einer Welt, die ihm sonst verschlossen bliebe. "Der Chronist der Winde" ist schließlich auch auch eine Hommage an die Kraft der Träume und des Vertrauens in die eigene Stärke.
Nelio stirbt in der neunten Nacht. Der Bäcker José kündigt seine Arbeit und beschließt fortan der Welt die Geschichte des Straßenkindes Nelio zu erzählen. Unablässig bewegen sich seine Lippen, formen Worte, die einzig der Wind hört. (Torsten Seewitz, 28.08.2000)

Buch bei amazon.de bestellen

Kommentar schreiben Kritik ausdrucken

WEITERE BUCHTIPPS FINDEN SIE UNTER BÜCHERBORD - DAS ARCHIV