Ein Kind
stirbt einsam auf dem Dach einer alten Bäckerei. Zwei
Pistolenkugel stecken in seinem kleinen Körper. Sein
Lager - eine alte Matratze im Schatten eines Schornsteins.
Neben dem sterbenden Kind, mit Namen Nelio, sitzt ein
Mann, der Bäcker José. Er pflegt das Kind notdürftig,
wechselt den blutdurchtränkten Verband, gibt ihm zu
trinken und hört den Geschichten des sterbenden Jungen
zu.
Diese bizarr anmutende Szenerie beschreibt der bekannte
schwedische Schriftsteller Henning Mankell in seinem,
bereits 1995 verfaßten, Roman "Der Chronist der
Winde". Mankell, vor allem als Autor von
Kriminalromanen bekannt, lebt die Hälfte eines Jahres als
Theaterregisseur in Mosambik. Für seinen Roman wählte er
dieses Mal einen Stoff aus der eigenen Erlebenswelt - das
Leben der Straßenkinder Maputos.
Mit
dem zehnjährigen Nelio schuf Mankell eine charismatische
Romanfigur, lebenserfahren und weise wie ein Greis, zart
und verwundbar wie ein Kind. In neun Nächten erzählt
Nelio dem Bäcker José, unterbrochen von Fieberschüben,
seine tragische Lebensgeschichte, die mit einem brutalen
Überfall marodierender Banditen auf sein Dorf begann.
Nelio mußte miterleben, wie seine kleine Schwester in
einem Mörser zerstampft und seinem Onkel der Kopf
abgeschlagen wird. Als er selbst einen Verwandten erschießen
soll, tötet er einen der Banditen und flieht.
Seine Flucht führt ihn nach endlosen Wanderungen und märchenhaften
Begegnungen mit dem Zwerg Yabu Bata und einer alten Echse,
in die große Stadt. Orientierungslos irrt er durch die
Straßen, gerät an einen Betrüger, flieht wieder und
findet letztendlich in einem, noch aus der Kolonialzeit
stammenden Reiterstandbild, Unterschlupf. Er hatte sein
neues "Zuhause" gefunden. Zu seiner neuen
"Familie" wird eine Gruppe von Straßenkindern,
die ihn sogar später als ihren Anführer anerkennen.
Nicht eines der Straßenkinder hatte eine glückliche
Kindheit. Viele sind mit Hunger und Armut, körperlicher
und sexueller Gewalt aufgewachsen. Sie leben am Rand der
Gesellschaft, aufgewachsen in Familien, die sie verstoßen
haben. Und dennoch wird ihr Leben von einer ungeheuren
Energie getragen. Sie geben sich nicht auf, ihr Halt ist
die Gemeinschaft. Sie trägt den Einzelnen bis zu seinem
Tod.
Doch wird der Roman nicht nur durch Schilderungen des täglichen
Leids und Elends der Kinder bestimmt. Mankell gewinnt auch
den tragsichen Seiten des Lebens eine gewisse Komik ab,
wenn er zum Beispiel Mandioco beschreibt, der in seinen
Hosentaschen Zwiebeln und Tomaten heranzieht, oder als die
Kinder unentdeckt die Suite des Präsidenten in seinem
Palast zu nächtlicher Stunde aufsuchen, um ihm eine tote
Eidechse auf den Nachtschrank zu legen.
Zu schnell jedoch erstirbt jedes Lächeln, liegt doch über
all den Geschichten Nelios die Erwartung seines nahenden
Todes. Was man beim Lesen leicht vergißt, hier erzählt
ein Zehnjähriger seine Biographie, der vor dem
Hintergrund seiner traumatischen Erlebnisse dennoch
versucht hat, seinen Platz im Leben zu finden.
Henning Mankell hat mit dem "Chronist der Winde"
einen Roman verfaßt, der dem Leser, ob seiner
sprachlichen Kraft und der beeindruckenden Charaktere,
lange Zeit in Erinnerung bleiben wird. Er hat den vielen
namenlosen Straßenkindern eine Identität gegeben. Indem
er von ihrem Schicksal erzählt, läßt er den Leser
teilhaben an einer Welt, die ihm sonst verschlossen
bliebe. "Der Chronist der Winde" ist
schließlich auch auch eine Hommage an die Kraft der Träume
und des Vertrauens in die eigene Stärke.
Nelio stirbt in der neunten Nacht. Der Bäcker José kündigt
seine Arbeit und beschließt fortan der Welt die
Geschichte des Straßenkindes Nelio zu erzählen. Unablässig
bewegen sich seine Lippen, formen Worte, die einzig der
Wind hört. (Torsten Seewitz, 28.08.2000) |