Nach
„Die Dunkelkammer des Damokles“ und „Nie mehr
schlafen“ setzt der zur Aufbau-Verlagsgruppe gehörende
Gustav Kiepenheuer Verlag die Edition der Werke des
Niederländers Willem Frederik Hermans mit einem seiner
letzten Romane, „Au pair“, fort.
Hermans gehörte in seiner Heimat zu den erfolgreichsten
Autoren; einige seiner Bücher avancierten sogar zur
Schullektüre.
Waren bislang Männer die Protagonisten seiner
Romanhandlungen, so erzählt er in „Au pair“ die
Geschichte einer jungen Frau, die der Abiturientin
Pauline. Deren Leidenschaften gehören der
Kunstgeschichte und der französischen Sprache, und so
beschließt sie, dies auch studieren zu wollen. Jedoch
nicht in ihrer Heimat, der Niederlande, sondern direkt
in Frankreich.
Hermans wählt als Hauptschauplatz seiner Handlung die
französische Hauptstadt Paris aus. Mit Bedacht, denn
die an Kunstschätzen und skurrilen Menschen reiche
Seine-Metropole stellt so recht das Gegenteil zu
Paulinas Heimatstadt Vlissingen dar.
Um ihren Aufenthalt finanzieren zu können, beschließt
Paulina, eine Anstellung als Au pair zu suchen. Nach
kurzer Zeit wird sie auch fündig und wird in einer
Anwaltsfamilie angestellt. Doch was sie dort erwartet,
entspricht so gar nicht ihren Vorstellungen. Als
Wohnraum wird ihr eine schäbige Dachkammer zugewiesen
und ihre Arbeitgeberin Madame Pauchard erweist sich als
ein ausgewiesen arrogant und unnahbar.
Bereits bei dieser Eingangsepisode
kann der deutschsprachige Leser eine neue Seite
Hermans entdecken - die des Schriftstellers mit einem
Gespür für hintersinnigen Humor.
Lang hält es Paulina in diesem Haushalt jedoch nicht
aus. Bereits nach zwei Tagen macht sie sich auf die
Suche nach einem neuen Arbeitgeber. Der war bald
gefunden, denn die Familie des alten Generals du Lune
verlangte nach ihren Diensten. Doch wider Erwarten bekam
Paulina den Hausherrn und seine Angehörigen anfangs
nicht zu Gesicht.
Statt dessen kümmerte sich das Dienstpersonal um
ihre Belange. Sie erhielt ein luxuriöses Zimmer mit
Blick auf den Jardin du Luxembourg und wurde von fortan
mit Geschenken überhäuft. Erst nach einigen Tagen
lernte sie den alten General kennen, der nichts anderes
von ihr forderte, als sich mit ihm zu unterhalten.
Paulinas Tätigkeit in diesem Haushalt beschränkte sich
tatsächlich auf diese Gespräche, also hatte sie genügend
Zeit für ihr Studium.
Nach und nach lernte sie die gesamte kauzige Familie des
Generals kennen, ohne zu begreifen, was tatsächlich von
ihr als Au pair verlangt wurde. Bis eines Tages der
Wunsch an sie herangetragen wurde, einen Geldkoffer in
die Schweiz zu bringen...
Hermans hat von 1983 bis 1989 an diesem Roman gearbeitet
und in dieser Zeit ein Meisterwerk vollendet, dass dem
Ruf des Autors als herausragender Schriftsteller
vollends gerecht wird. Denn Hermans versteht es
meisterhaft, wie bereits in seinen vorhergehenden
Romanen, eine subtile Spannung aufzubauen, die den Leser
gefangen nimmt und ihn immer tiefer in ein Labyrinth aus
Fragen und Mutmaßungen verstrickt.
Letztendlich ist ihm mit „Au pair“ ein
beeindruckender, genau beobachteter Roman über eine
Welt gelungen, in der materielle die ideellen,
menschlichen Werte verdrängt haben.
Torsten Seewitz, 15.01.2004 |