Ein wenig verbreitet der Briefroman "Alles, alles Liebe!" die Wehmut von Christa Wolfs
"Sommerstück" und beschwört somit ein Stück deutscher Geschichte herauf - das Leiden der Intellektuellen am Staat "DDR" mit all seinen
Reglementierungen und Unsicherheiten. Doch Barbara Honigmann beschränkt sich
nicht auf diese Sicht, sondern erzählt die Geschichte der frühen 70er Jahre
aus der Perspektive jüdischer Überlebender des Holocaust und deren Nachfahren,
die ihre Heimat im Osten Deutschlands gefunden glauben.
Anna, eine junge Regisseurin, sucht eine neue berufliche Herausforderung. Sie
verlässt das Berliner Großstadtleben, um eine Stelle in der Provinz, genauer
dem Prenzlauer Theater, anzunehmen. Doch was als Neuanfang gedacht war,
gestaltet sich bald als Niederlage. Zu sehr ist sie mit ihrem Freundeskreis verbunden und zu sehr ödet
sie die Miefigkeit der Provinz an.
Bleibt einzig und allein die Verständigung
über Briefe, altmodisch mit der Hand geschrieben. Alltägliches wechselt mit
Belanglosem, persönliche Verzweiflung über die Untreue des Geliebten mit
tiefgreifenden, verzweifelten Gedanken über die Lebenssituation in diesem Staat
DDR. Hoffnungslosigkeit, die vor allem geschürt wird, durch den latent spürbaren
Antisemitismus unter ihren Mitmenschen. Sicher schien nur der Freundeskreis, die
Welt der Künstler und Träumer.
Anna fühlt sich unverstanden in ihrer neuen Lebenswelt und auf Grund ihres Glaubens an den Rand der
Gesellschaft gedrängt. Sehnsüchtig liest sie die Briefe der Freunde, deren
neue Heimat Moskau oder Jerusalem heißt.
Barbara Honigmann erzählt in "Alles, alles Liebe!" eine Geschichte
der Sehnsucht, der Sehnsucht nach Heimat. Zwar fanden die jüdischen Emigranten
nach Ende des Nationalsozialismus im sozialistischen Teil Deutschlands einen sicheren
Hort, doch wurde ihr Bleiben mit Privilegien wie der Reisefreiheit vom Staat
erkauft.
Dem Leser erschließt der Roman so die Innenansicht einer untergegangen Welt, die
in dieser Form nur Eingeweihten vertraut war. Es ist die besondere Klarheit
der Sprache Barbara Honigmanns, die die Ernüchterung über das Erlebte zwischen
den Zeilen spüren lässt. Illusionslos hält sie Rückschau, voller
Unverständnis für die Lebenssicht der Elterngeneration. ©Torsten Seewitz,
04.03.2001 |