Es
ist eine auf den ersten Blick idyllische Welt, von der
Kazuo Ishiguro die einundreißigjährige Kathy in seinem
jüngsten Roman "Alles, was wir geben mußten"
erzählen lässt. Seit nunmehr elf Jahren arbeitet sie
als Betreuerin. Sie macht diesen Job seit elf Jahren und
SIE sind mit ihr zufrieden. Mehr erfährt der Leser auf
der ersten Seite des Buches nicht, auch nicht auf den
nächsten hundert Seiten.
Denn Kathy erinnert sich an eine Welt, die in weit
entfernter Vergangenheit zu liegen scheint. In ihrer
Rückschau lässt sie die Welt von Hailsham auferstehen,
einem Internat verborgen
hinter großen Pappeln irgendwo in England. Voller
Wehmut denkt sie an den jähzornigen Tommy zurück und
an ihre Freundin Ruth.
Man könnte meinen, Ishiguro erzähle eine klassische
Schulgeschichte, wären da nicht irritierende Worte wie
"spenden" oder "abschließen", die
den Fluß des in einer beeindruckend klaren und dennoch
poetischen Sprache erzählten Romans unterbrechen.
Angetrieben von der Neugier, was diese Worte zu bedeuten
haben, führt Ishiguro den Leser in eine monströse
Welt, die jedoch nicht in ferner Zukunft liegt, sondern
wie zu Beginn des Romans vermerkt, im England des 20.
Jahrhunderts.
Nach und nach werden die Anspielungen immer deutlicher,
bis sie letztendlich in der Erkenntnis münden, dass
Kathy, Tommy, Ruth und die anderen Mädchen und Jungen
des Internats Klone sind, einzig zu dem Zweck auf der
Welt, ihre Organe zu spenden bis sie
"abschließen".
Ishiguro spielt mit der Naivität des Lesers und lässt
ihn lange Zeit in dem Glauben, die Lebensgeschichte ganz
normaler Jugendlicher zu verfolgen. Doch würde die
bloße Reduzierung des Romans auf diese Irreführung ihm
nicht gerecht werden. Vielmehr provoziert Ishiguro die
Frage nach dem eigentlichen Wesen des Menschen und was
ihn von seinen genetisch identischen Abbildern, sofern
es diese irgendwann geben wird, unterscheidet.
Ohne Einschränkung kann man "Alles, was wir geben
mussten" als einen sensationellen Roman bezeichnen,
der gerade durch den Gegensatz der Ungeheuerlicheit des
Erzählten und der Poetik seiner Sprache einen
besonderen Reiz erhält. Torsten Seewitz, 20.11.2005 |