Als
Henry James’ Roman „Die Aspern-Schriften“ 1888 in
der Zeitschrift „Atlantic Monthly“ in Fortsetzungen
veröffentlicht wurde, hatte der Autor den Zenit seines
schriftstellerischen Schaffens bereits erreicht. Sein
Werk fand nicht nur bei europäischen, sondern auch bei
amerikanischen Lesern größte Beachtung, denn James
wurde vor allem für seine Meisterschaft im
psychologisch feinsinnigen Erzählen geschätzt. Als Höhepunkt
dieser Erzählkunst gilt zu Recht der Roman „Die
Aspern-Schriften“, in welchem er seinen jungen
Protagonisten, einen englischen Herausgeber,
hinterlassene Handschriften des bekannten Autors Jeffrey
Aspern aufspüren lässt. Schauplatz des Geschehens ist
für einen großen Teil der Handlung ein alter Palazzo
in Venedig, bewohnt von einer steinalten Dame, Miss Bordereau
und ihrer Nichte, Miss Tina.
Miss Bordereau war einst Geliebte des verehrten Aspern
und verwahrt die hinterlassenen Schriften wie einen
Schatz in ihrer Wohnung. Um an diese Papiere zu gelangen
entschließt sich der namenlose Erzähler des Romans zu
einer List und mietet sich unter einem Vorwand im Haus
der Damen Bordereau ein.
Im Folgenden macht James den Leser zum Beobachter eines
feinsinnig inszenierten Kammerspiels, in welchem der von
seinem Plan besessene Literat erkennen muss, die beiden
Frauen unterschätzt zu haben. All sein Werben um die
Gunst der alten Dame bleibt unerhört. So konnte ihn nur
das geschickte Umwerben der jungen Miss Tina an sein
Ziel führen, ohne jemals daran zu denken, dass seine
nicht ernst gemeinten Annäherungsversuche eines Tages
erfolgreich sein würden.
Als Miss Tina entdeckt, dass das Interesse an ihr mit
wahrer Zuneigung wenig zu tun hatte, bleibt ihr nur ein
Ausweg: sich für diese Schmach zu rächen.
Doch Henry James’ Roman ist weitaus mehr als eine
detaillierte psychologische Studie über die Folgen
menschlicher Gier. In ihrem überaus kenntnisreichen
Nachwort zeigt die Übersetzerin Bettina Blumenberg,
dass sich durch den Text vor allem ein Motiv zieht, nämlich
das des nicht gelebten, freudlosen, verspielten und
verhinderten Lebens. Ein Lebensthema, welches für Henry
James existentiell bestimmend war.
Torsten Seewitz, 18.02.2006 |