Erzählt
Wladimir Kaminer in seinem ersten, viel beachteten Buch "Russendisko"
von seiner Zeit nach der Flucht in den Westen, so kann der aktuelle
Roman "Militärmusik" als deren Vorgeschichte gelesen
werden. Der Autor wird 1967 geboren, fünfzig Jahre nach der Großen
Oktoberrevolution, einem für die Sowjetunion denkwürdigem Jubiläum.
Doch statt Freude über die Vorzüge des Sozialismus, herrscht bei
den Einwohnern Frust
über die unzulänglichen Zustände im Land. Probleme waren an der
Tagesordnung, so gab es "das Wurstproblem, das Zuckerproblem,
das Butterproblem und unzählige andere, welche die Sowjetunion
[...] unattraktiv machten.".
Kaminer erinnert mit viel Witz und in gewohnt lockerem Stil seine
Kindheit und Jugend in seinem Heimatland. In zahlreichen
Anekdoten, bevölkert mit einer Vielzahl skurriler Personen,
lässt er seine
Schulzeit, die ersten Versuche, Geld zu verdienen und seine Zeit in
der Armee noch einmal Revue passieren. Seine Einblicke in eine
geschlossene Gesellschaft, in eine Welt voller Absurditäten
lassen beim Lesen die Frage aufkeimen, weshalb dieses Land nicht
bereits früher seine Bankrott erklärt hat.
Ob die verlogene, auf politische Phrasen ausgerichtete
Schulerziehung oder die mangelnde Moral in der ehemals so
siegreichen Sowjetarmee, Kaminer
lebte ein Leben neben der Normalität. Aller Zwang war ihm fremd und
einzig seine Leidenschaft, Geschichten zu erzählen, hielt ihn an
der Oberfläche der sozialistischen Gesellschaft, in der
Andersdenkende wie Aussätzige behandelt wurden.
Aber gerade dieses Leben wider die Konformität, brachte viele der
heute aktiven russischen Künstler hervor.
Liest man die als Roman etikettierte Geschichtensammlung Kaminers,
erschließt sich eine unbekannte Welt, die zwar ironisch zugespitzt,
aber dennoch ein wenig von der Trost- und Perspektivlosigkeit eines untergegangenen Landes erfahrbar macht. Vielleicht ist
diese Form des Erzählens die einzig mögliche Annäherung an ein Stück
Geschichte, deren
vorzeitiges Ende so niemand vorhersehen konnte.
Wladimir Kaminer ist in seiner neuen Heimat Deutschland angekommen
und gehört gerade für die Kulturwelt der Hauptstadt
zu einer mittlerweile unverzichtbaren Größe. Seien es die
inzwischen legendäre Russendisko im Kaffee Burger, seine Arbeit als
Rundfunkmoderator von "Wladimirs Welt"
oder seine Texte als Kolumnist für verschiedene deutsche
Tageszeitungen.
Wer noch mehr von diesem ungewöhnlichen Autor lesen möchte, dem
sei der im Dezember 2001 bei Goldmann als Taschenbuch erschienene
Geschichtenband mit den Titel "Schönhauser Allee"
empfohlen. ©Torsten Seewitz, 25.02.2002
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