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James Lasdun
"Die Jagd auf das Einhorn"
Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann
Carl Hanser Verlag München 2002
224 S.; 17,90 Euro

Anfänglich glaubte Lawrence Miller, Dozent an einer kleinen New Yorker Universität, an eine Fehlleistung seiner Erinnerung, als er das Lesezeichen in einem Buch nicht mehr an der gleichen Stelle vorfindet, an welcher er es einen Tag zuvor gelegt hatte. Doch als er wenige Tage später seine Psychoanalytikerin auf der Strasse zu sehen glaubt, obwohl sie nachgewiesenermaßen zur gleichen Zeit einen Patienten betreute, mehren sich die Zweifel an seinem Verstand. Regelmäßig besucht er seine Analytikerin, weniger, um sich therapieren zu lassen, sondern vielmehr um einen Einblick in die psychoanalytische Praxis zu erhalten, einem Forschungsthema, welches er sich seit geraumer Zeit widmet. Und es kann ja nicht schaden, ein wenig über sich selbst zu erfahren und die eigenen Probleme jemandem anzuvertrauen, von dem man zwar keine Antworten erwartet, der jedoch zuhören kann. Dass es sich hierbei um eine von ihm teuer bezahlte Dienstleistung handelt, schien Miller wenig zu interessieren. 
Die mysteriösen Erlebnisse in seinem Alltag nahmen jedenfalls zu. Als er nachts am PC in seinem Büro einen literarischen Text seines Vorgängers entdeckt, fühlt er sich beim Lesen beobachtet. Am nächsten Tag, als er das Geschriebene ausdrucken wollte, waren alle Daten verschwunden und statt einer Nachricht, die er erhoffte vorzufinden, prangte ein stinkender Kothaufen auf seinem Schreibtisch. 
Getrieben von dem Wunsch, Aufklärung zu erhalten, steigert sich Miller in die Suche nach seinem Vorgänger, einem griechischen Dozenten mit Namen Trumilcik, der wegen sexueller Belästigung von Studentinnen die Universität verlassen musste. Dieser bleibt unauffindbar, jedoch entdeckt er zwischen den zusammengestellten Schreibtischen in seinem Büro ein Versteck, aus welchem man ungestört den Raum beobachten konnte. Eine Wolldecke und ein ekliger Gestank schienen seinen Verdacht zu bestärken, in jener Nacht beobachtet worden zu sein. 
Als er zudem erfuhr, dass die junge Wissenschaftlerin, die vor ihm in diesem Büro arbeitete, auf tragische Weise ums Leben kam, geriet Miller vollends in Panik. Nichts in seinem Leben schien ihm mehr vertraut, alles musste er fortan auf seine Glaubwürdigkeit hin hinterfragen. Seinem Verstand konnte er jedenfalls immer weniger vertrauen.
Man kann Lasduns Roman "Die Jagd auf das Einhorn" aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Zum einen als eine phantasiereiche Geschichte, die in der Tradition so berühmter Autoren wie Kafka, Poe oder H.P Lovecraft geschrieben ist; zum anderen als eine Studie über die Psychologie des Wahns, der sich langsam aber unaufhaltsam seines Opfers bemächtigt.
Die Frage ist, welches Erlebnis diesen Wahn bei Lawrence Miller ausgelöst hat. James Lasdun bemüht sich allerdings erst gar nicht, dies zu beantworten; im Gegenteil, er treibt das Spiel mit dem Leser soweit, dass er die Grenzen zwischen Realität und Phantasie letztendlich vollends verschwinden lässt. Spätestens als Miller ein Horn aus seiner Stirn wachsen spürt, ist der Leser im Reich des Imaginären angelangt. © Torsten Seewitz, 30.10.2002

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