Anfänglich
glaubte Lawrence Miller, Dozent an einer kleinen New
Yorker Universität, an eine Fehlleistung seiner
Erinnerung, als er das Lesezeichen in einem Buch nicht
mehr an der gleichen Stelle vorfindet, an welcher er es
einen Tag zuvor gelegt hatte. Doch als er wenige Tage
später seine Psychoanalytikerin auf der Strasse zu
sehen glaubt, obwohl sie nachgewiesenermaßen zur
gleichen Zeit einen Patienten betreute, mehren sich die
Zweifel an seinem Verstand. Regelmäßig besucht er
seine Analytikerin, weniger, um sich therapieren zu
lassen, sondern vielmehr um einen Einblick in die
psychoanalytische Praxis zu
erhalten, einem Forschungsthema, welches er sich seit
geraumer Zeit widmet. Und es kann ja nicht schaden, ein
wenig über sich selbst zu erfahren und die eigenen
Probleme jemandem anzuvertrauen, von dem man zwar keine
Antworten erwartet, der jedoch zuhören kann. Dass es
sich hierbei um eine von ihm teuer bezahlte
Dienstleistung handelt, schien Miller wenig zu
interessieren.
Die mysteriösen Erlebnisse in seinem Alltag nahmen
jedenfalls zu. Als er nachts am PC in seinem Büro einen
literarischen Text seines Vorgängers entdeckt, fühlt
er sich beim Lesen beobachtet. Am nächsten Tag, als er
das Geschriebene ausdrucken wollte, waren alle Daten
verschwunden und statt einer Nachricht, die er erhoffte
vorzufinden, prangte ein stinkender Kothaufen auf seinem
Schreibtisch.
Getrieben von dem Wunsch, Aufklärung zu erhalten,
steigert sich Miller in die Suche nach seinem
Vorgänger, einem griechischen Dozenten mit Namen
Trumilcik, der wegen sexueller Belästigung von
Studentinnen die Universität verlassen musste. Dieser
bleibt unauffindbar, jedoch entdeckt er zwischen den
zusammengestellten Schreibtischen in seinem Büro ein
Versteck, aus welchem man ungestört den Raum beobachten
konnte. Eine Wolldecke und ein ekliger Gestank schienen
seinen Verdacht zu bestärken, in jener Nacht beobachtet
worden zu sein.
Als er zudem erfuhr, dass die junge Wissenschaftlerin,
die vor ihm in diesem Büro arbeitete, auf tragische
Weise ums Leben kam, geriet Miller vollends in Panik.
Nichts in seinem Leben schien ihm mehr vertraut, alles
musste er fortan auf seine Glaubwürdigkeit hin
hinterfragen. Seinem Verstand konnte er jedenfalls immer
weniger vertrauen.
Man kann Lasduns Roman "Die Jagd auf das
Einhorn" aus zwei verschiedenen Blickwinkeln
betrachten. Zum einen als eine phantasiereiche
Geschichte, die in der Tradition so berühmter Autoren
wie Kafka, Poe oder H.P Lovecraft geschrieben ist; zum
anderen als eine Studie über die Psychologie des Wahns,
der sich langsam aber unaufhaltsam seines Opfers
bemächtigt.
Die Frage ist, welches Erlebnis diesen Wahn bei Lawrence
Miller ausgelöst hat. James Lasdun bemüht sich allerdings
erst gar nicht, dies zu beantworten; im Gegenteil, er
treibt das Spiel mit dem Leser soweit, dass er die
Grenzen zwischen Realität und Phantasie letztendlich
vollends verschwinden lässt. Spätestens als Miller ein
Horn aus seiner Stirn wachsen spürt, ist der Leser im
Reich des Imaginären angelangt. © Torsten Seewitz,
30.10.2002 |