Was veranlaßt einen Menschen, sich eines
Verbrechens schuldig zu bekennen, wissentlich der Tatsache, dieses nicht
begangen zu haben? Sollte der Schuldige von der Straftat freigesprochen, oder
gar ein anderes Verbrechen vertuscht werden?
Die Bewohner des kleinen französischen Ortes Villiers-la-Foret werden diese
Frage wohl nie vollständig beantworten können. Zu undurchsichtig stellte sich
die Beweislage des Julitages 1947 dar, an welchem eine halb entkleidete, unter
Schock stehende Frau neben einem ertrunkenen Mann am nahegelegenen Flussufer
aufgefunden wurden.
Welches Geheimnis die Frau mit Namen Olga Arbelina umgab, erzählt Andrei Makine
in seinem neuesten Roman "Das Verbrechen der Olga Arbelina". Wie in
dem bereits 1995 in Deutschland erschienenen Roman "Das französische
Testament", sind russische Emigranten, die in Frankreich ihre Zuflucht
gefunden haben, die Protagonisten.
Mit Olga Arbelina betrat erstmals eine Adlige die kleine russische Kolonie des
Ortes Villiers, doch entgegen der Erwartung der anderen russischen Emigranten
litt sie nicht an ihrem Exil, sondern lebte ärmlich und zurückgezogen wie sie
selbst. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich als Bibliothekarin in der
Bücherei des Altenheimes.
Mit großer Sensibilität fühlt sich Makine in die Psyche seiner Protagonistin
ein und läßt sie in langen, monologischen Passagen ihre verhängnisvolle
Vergangenheit erinnern.
Es bedarf schon ein wenig an Geduld, sich in der Gedanken- und Gefühlswelt der
Olga Arbelina zurechtzufinden. Makine belohnt diese Ausdauer dennoch, indem er
behutsam biographische Bruchstücke aneinanderfügt und somit Stück für Stück
das Geheimnis der Olga Arbelina preisgibt.
Zentrales Motiv des Romans ist die schicksalhaft geprägte Beziehung zu ihrem
Sohn, der an der Hämorrhagie (Bluterkrankheit) erkrankt ist - die Erbkrankheit
des russischen Adels. Über viele Jahre hinweg versucht Olga Arbelina diese
Erkrankung vor ihm und der Umwelt zu verbergen. Nur der im Ort ansässige Arzt
wird von ihr konsultiert.
Man könnte versucht sein, es Alltag zu nennen, was Makine über weite Strecken
des Romans beschreibt; die Ängste und Sehnsüchte einer alleinstehenden Frau
und Mutter, die sich um die eigene Zukunft und die ihres kranken Sohnes sorgt
und nicht wahrhaben will, daß ihr Kind erwachsen wird.
Wie gesagt, man könnte, wären da nicht die heimlichen Besuche in Olgas Wohnung
während der langen und kalten Winternächte. Anfänglich keimt in Olga nur ein
Verdacht, der bald Gewißheit wird. Eine Erkenntnis, die ihr Leben von einen Tag
auf den anderen verändert. Sie bricht ein Tabu, welches kein Zurück in die
Normalität zuläßt... ©Torsten Seewitz, 27.07.2000 |