Wenn in
diesem Jahr der Nobelpreis für Literatur vergeben wird,
dürfte der Brite McEwan zu den erfolgversprechendsten
Anwärtern gehören. Denn seit im Jahr 1975 sein erster
Erzählungsband „Erste Liebe - letzte Riten“
erschien, reißt der Erfolg seiner Bücher nicht ab. Ob
mit seinem 2003 erschienenen Roman „Abbitte“, der
sich über drei Millionen Mal verkaufte, oder „Amsterdam“,
für den er 1998 den Booker-Preis erhielt, immer
schaffte es McEwan seine Leserschaft so anzurühren,
dass sie seinen Fiktionen vollen Lobes folgten.
Nicht anders dürfte es seinem jüngsten Prosawerk „Saturday“
ergehen, dessen Erscheinen in diesem Jahr mit einem
riesigen Medienrummel einherging. Eigentlich ein gutes
Zeichen für den Stellenwert von Literatur in der
Gesellschaft, wenn das Erscheinen eines Romans der BBC
einen Platz in den Hauptnachrichten wert ist. Wenn man
nicht ganz so weit gehen möchte, so spricht dies
zumindest für die Bedeutsamkeit des Autors, der
mittlerweile nicht nur in Großbritannien zu den
herausragendsten Schriftstellern zählt.
Doch was hat diese starke Medienpräsenz ausgelöst? Es
waren wohl die Thematisierung des Traumas vom 11.
September 2001 und die Folgen des Irakkrieges, denen
sich McEwan in seinem Roman zuwendet. Sollte man den
Inhalt beschreiben, dann fielen die Schilderungen wohl
weniger spektakulär aus. Denn „Saturday“ handelt an
einem einzigen Tag. Es ist Samstag, der 15. Februar 2003
und London steht vor einer der größten
Antikriegsdemonstrationen gegen den Einsatz britischer
Militärkräfte im Irak.
Ian McEwan hat sich einen Protagonisten ausgedacht, der
wohlsituiert das Weltgeschehen mit gewissem inneren
Abstand betrachtet. Henry Perowne ist sein Name,
erfolgreicher Neurochirurg, verheiratet und Vater von
zwei erwachsenen Kindern. Wie bereits James Joyce in „Ulysses“
oder Virginia Woolf in „Mrs Dalloway“ entfaltet er
den inneren Kosmos seiner Hauptfigur in allen Facetten.
Er leuchtet tief in die Psyche, ohne jedoch das
Geschehen der Außenwelt zu vernachlässigen. Es ist
gerade dieses In-Beziehung-Setzen, das Verlassen der
bloßen Nabelschau, die das Besondere dieses Romans
ausmachen.
Es beginnt bereits in den frühen Morgenstunden dieses
außergewöhnlichen Samstags, als Henry Perowne, am
Küchenfenster stehend, ein brennendes Flugzeug am
Himmel erblickt. Die Assoziation „11. September 2001“
lässt nicht lange auf sich warten. Dass später in den
Nachrichten verkündet wird, es handelte sich „nur“
um den Triebwerksschaden eines russischen
Transportflugzeuges, beruhigt Perowne nur unwesentlich
und letztendlich stellt diese Beobachtung am frühen
Morgen nur den Beginn einer Kette wesentlich
beunruhigender Geschehnisse in seinem Leben dar. Noch
freut er sich auf das Squashspiel mit seinem Kollegen
und auf das abendlicher Treffen mit seiner Tochter, die
er seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen hat.
Auf dem Weg zur Squashhalle passiert ihm ein Unfall,
eine kleine Karambolage mit einem anderen Fahrzeug.
Eigentlich eine Angelegenheit, die schnell zu regeln
gewesen wäre, doch hat Perowne den Fahrer des anderen
Fahrzeugs unterschätzt, dem nichts ferner scheint, als
eine gütlichen Einigung herbeizuführen. So kommt es
zur Eskalation der Situation, in deren Folge sich
Perowne mit körperlicher Gewalt konfrontiert sieht und
der er nur mit Glück entfliehen kann. Doch nur
physisch, denn gedanklich wird ihn dieses Ereignis den
ganzen Tag verfolgen. Erstmalig musste er einen Angriff
auf seine Person erleben. Und so wie ihm der Schlag auf
das Sternum kurzzeitig zum Wanken brachte, gerät sein
Weltbild ins Schwanken und er hat Mühe, es wieder ins
Gleichgewicht zu bringen.
Meisterhaft gelingt es McEwan, den Leser am Wanken der
Grundfesten im Leben des Henry Perowne teilhaben zu
lassen. Dabei lässt er nicht nur tiefe Einblicke in die
Seelenlandschaften seines Protagonisten zu, sondern baut
eine zugleich spannungsgeladene Handlung auf, die mit
einem unerwarteten Höhepunkt ihr vorläufiges Ende
findet.
Henry Perowne wird dem Leser lange im Gedächtnis
bleiben. Mit ihm hat Ian McEwan eine Figur der
Weltliteratur geschaffen, die sich würdig neben Leopold
Bloom und Mrs Dalloway einreiht. Torsten Seewitz,
07.08.2005 |