"Briony
gehörte zu jenen Kindern, die eigensinnig darauf
beharren, dass die Welt genauso und nicht anders zu sein
hat." - mit fatalen Folgen für ihre Mitmenschen,
wie Ian McEwan in seinem aktuellen Roman in dieses Mal
ungewohnt epischer Breite erzählt. Wie bereits in
seinen früheren Büchern, stehen wieder junge Menschen,
die sich auf dem beschwerlichen Weg der der
Selbstfindung befinden, im Mittelpunkt der
Handlung.
Eigentlich hatte Briony geplant, ihr Theaterstück mit
dem etwas pathetischen Titel "Die Heimsuchungen
Arabellas" am Abend der Ankunft ihres Bruders
aufzuführen, doch die Proben verliefen nicht nach Plan.
Vielleicht war die unerträgliche Hitze Schuld, dass
weder ihre Cousine noch deren kleine Zwillingsbrüder
sich an ihre Anweisungen und Zeitabsprachen hielten.
Jedenfalls verbrachte Briony viel Zeit mit Warten.
Während sie verträumt aus dem Fenster sah, beobachtet
sie ihre Schwester Cecilia und den Sohn der
Haushälterin, Robbie, wie diese sich am Swimmingpool
unterhielten und, für sie nicht verständlich, sich
wild gestikulierend um eine wertvolle Vase stritten. Am
Abend dann überraschte sie beide in der Bibliothek, wie
sie sich eng umschlungen ihrer Leidenschaft hingaben.
Als dann in der Nacht auch noch die Zwillinge
verschwanden und in einer groß angelegten Aktion
gesucht werden mussten, schien sich die knisternde
Spannung, die in der Luft lag, zu entladen.
Ihre Cousine gab an, Opfer einer Vergewaltigung während
der Suchaktion geworden zu sein. Und obgleich Briony
weder Zeuge der Tat noch den Täter eindeutig
identifizieren konnte, beschuldigte sie den Freund ihrer
Schwester Robbie und gab an, wider besseres Wissen, ihn
gesehen zu haben. Eine schicksalhafte und mit normalen
Rachegedanken nicht zu begründende Intrige Brionys, mit
fatalen Folgen für den Beschuldigten.
Soweit der erste Teil des Romans, den McEwan in
wundervoll epischer Breite und stilistisch glänzend
erzählt. Man fühlt sich beim Lesen an die großen
englischen Romanklassiker einer Jane Austen erinnert,
und vielleicht sollte man "Abbitte" als eine Reminiszenz
an diese große Autorin lesen. McEwan steht ihr in der
Kunst des Erzählens in keinem Punkt nach, denn genau
wie Austen versteht er es, psychologisch äußerst
feinfühlige Portraits seiner Protagonisten zu
zeichnen.
Im zweiten Teil des Romans folgt McEwan den Spuren
Robbies, der für die ihm angelastete Tat eine hohe
Haftstrafe verbüßen musste, nach Frankreich. Robbie
kämpft in der britischen Armee gegen die deutschen
Besatzer während des 2. Weltkrieges. Die
Alliierten befinden sich auf dem Rückzug vor den
herannahenden deutschen Truppen und warten auf ihre
Ausschiffung nach England.
Zur Beschreibung des dekadenten bürgerlichen Idylls im
Anfangskapitel gesellen sich nunmehr sehr realistische
Schilderungen der Gräuel des Krieges. Das einstige
Idyll ist der Sehnsucht nach Überleben gewichen.
McEwan folgt jedoch nicht nur den Wegen Robbies, sondern
auch denen Cecilias und Brionys, die sich jede auf ihre
Weise mit den Folgen der verhängnisvollen Sommernacht
arrangiert haben.
Der Reiz des Romans besteht jedoch nicht in seiner
Komposition, die zwar sehr gelungen, jedoch nicht
einzigartig ist, sondern in der Schwerelosigkeit des
Erzählten. Die Handlung beschränkt sich auf ein
Minimum und könnte mit wenigen Sätzen nacherzählt
werden. Doch versteht es McEwan meisterhaft, die
Geschehnisse im Roman aus den individuellen Blickwinkeln
seiner Protagonisten zu reflektieren und diese
Sichtweisen nahezu unscheinbar miteinander zu
verknüpfen, so dass letztendlich ein wunderbar
homogener, vor allem ob seiner stilistischen Brillanz in
Erinnerung bleibender Roman entstanden ist.
©Torsten Seewitz, 22.11.2002 |