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Ian McEwan
"Abbitte"
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Diogenes Verlag Zürich
535 S.; 24,90 Euro

"Briony gehörte zu jenen Kindern, die eigensinnig darauf beharren, dass die Welt genauso und nicht anders zu sein hat." - mit fatalen Folgen für ihre Mitmenschen, wie Ian McEwan in seinem aktuellen Roman in dieses Mal ungewohnt epischer Breite erzählt. Wie bereits in seinen früheren Büchern, stehen wieder junge Menschen, die sich auf dem beschwerlichen Weg der der Selbstfindung befinden, im Mittelpunkt der Handlung. 
Eigentlich hatte Briony geplant, ihr Theaterstück mit dem etwas pathetischen Titel "Die Heimsuchungen Arabellas" am Abend der Ankunft ihres Bruders aufzuführen, doch die Proben verliefen nicht nach Plan. Vielleicht war die unerträgliche Hitze Schuld, dass weder ihre Cousine noch deren kleine Zwillingsbrüder sich an ihre Anweisungen und Zeitabsprachen hielten. Jedenfalls verbrachte Briony viel Zeit mit Warten. Während sie verträumt aus dem Fenster sah, beobachtet sie ihre Schwester Cecilia und den Sohn der Haushälterin, Robbie, wie diese sich am Swimmingpool unterhielten und, für sie nicht verständlich, sich wild gestikulierend um eine wertvolle Vase stritten. Am Abend dann überraschte sie beide in der Bibliothek, wie sie sich eng umschlungen ihrer Leidenschaft hingaben. Als dann in der Nacht auch noch die Zwillinge verschwanden und in einer groß angelegten Aktion gesucht werden mussten, schien sich die knisternde Spannung, die in der Luft lag, zu entladen. 
Ihre Cousine gab an, Opfer einer Vergewaltigung während der Suchaktion geworden zu sein. Und obgleich Briony weder Zeuge der Tat noch den Täter eindeutig identifizieren konnte, beschuldigte sie den Freund ihrer Schwester Robbie und gab an, wider besseres Wissen, ihn gesehen zu haben. Eine schicksalhafte und mit normalen Rachegedanken nicht zu begründende Intrige Brionys, mit fatalen Folgen für den Beschuldigten. 
Soweit der erste Teil des Romans, den McEwan in wundervoll epischer Breite und stilistisch glänzend erzählt. Man fühlt sich beim Lesen an die großen englischen Romanklassiker einer Jane Austen erinnert, und vielleicht sollte man "Abbitte" als eine Reminiszenz an diese große Autorin lesen. McEwan steht ihr in der Kunst des Erzählens in keinem Punkt nach, denn genau wie Austen versteht er es, psychologisch äußerst feinfühlige Portraits seiner Protagonisten zu zeichnen. 
Im zweiten Teil des Romans folgt McEwan den Spuren Robbies, der für die ihm angelastete Tat eine hohe Haftstrafe verbüßen musste, nach Frankreich. Robbie kämpft in der britischen Armee gegen die deutschen Besatzer während des  2. Weltkrieges. Die Alliierten befinden sich auf dem Rückzug vor den herannahenden deutschen Truppen und warten auf ihre Ausschiffung nach England. 
Zur Beschreibung des dekadenten bürgerlichen Idylls im Anfangskapitel gesellen sich nunmehr sehr realistische Schilderungen der Gräuel des Krieges. Das einstige Idyll ist der Sehnsucht nach Überleben gewichen. 
McEwan folgt jedoch nicht nur den Wegen Robbies, sondern auch denen Cecilias und Brionys, die sich jede auf ihre Weise mit den Folgen der verhängnisvollen Sommernacht arrangiert haben.  
Der Reiz des Romans besteht jedoch nicht in seiner Komposition, die zwar sehr gelungen, jedoch nicht einzigartig ist, sondern in der Schwerelosigkeit des Erzählten. Die Handlung beschränkt sich auf ein Minimum und könnte mit wenigen Sätzen nacherzählt werden. Doch versteht es McEwan meisterhaft, die Geschehnisse im Roman aus den individuellen Blickwinkeln seiner Protagonisten zu reflektieren und diese Sichtweisen nahezu unscheinbar miteinander zu verknüpfen, so dass letztendlich ein wunderbar homogener, vor allem ob seiner stilistischen Brillanz in Erinnerung bleibender Roman entstanden ist. 
©Torsten Seewitz, 22.11.2002

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