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Fritz Mertens
"Ich wollte Liebe und lernte hassen"
Diogenes Zürich 2006
256 S.; 8,90 Euro

Als Fritz Mertens im Alter von zwanzig Jahre zwei Menschen tötete, kannte niemand dessen Geschichte. Keiner hatte eine Ahnung, welches Martyrium er über die Jahre seiner Kindheit hinweg in seinem Elternhaus durchleiden musste. Jahre, die in unserem Leben zu den prägendsten zählen, die unsere Persönlichkeit formen und den Grundstock für unseren weiteren Lebensweg legen. 
Der Jugendpsychiater Reinhart Lempp wird mit der Untersuchung des Häftlings Fritz Mertens beauftragt. Er ist es, der den Zwanzigjährigen motiviert, seine Geschichte aufzuschreiben, als er spürte, dass in den zahlreichen Gesprächen mehr war, was dieser erzählen wollte, aber nicht in Worte fassen konnte. So entstand der vorliegende Bericht, für den Lempp auf Bitten des jungen Autors 1984 einen Verlag fand und der ihn unter dem pathetisch klingenden Titel "Ich wollte Liebe und lernte hassen!" in Buchform veröffentlichte. 
Der Titel lässt bereits erahnen, was Mertens zu erzählen hat. Ausführlich beschreibt er die ersten Jahre seiner Kindheit, die geprägt war von häufigen Krankenhausaufenthalten und martialisch anmutenden Behandlungsmethoden der Ärzte. Im Nachgang betrachtet schien diese Zeit jedoch die glücklichste gewesen zu sein, obgleich glücklich hier sehr relativ zu betrachten ist. 
Von seinen Eltern bekommt er Zuwendung, aber nicht in Form von Liebe und Wertschätzung. Da er das älteste Kind in der Familie ist, bekommt er die Verantwortung für seine Geschwister und den Haushalt übertragen. Seine Mutter wechselt häufig ihre Arbeit, ebenso der Vater. Beide ertränken ihren Frust mit Alkohol, was häufig mit wahren Prügelorgien endet. Vor allem Fritz ist der Leidtragende, der für Kleinigkeiten mit einem Ledergürtel und später sogar mit einer Reitgerte bestraft wird. Auch Essensentzug und Bettarrest gehören zum Strafrepertoire der Eltern, die nicht nur mit der Erziehung ihrer Kinder heillos überfordert sind, sondern auch ihre Ehe nicht in den Griff bekommen. So muss Fritz miterleben, wie seine Mutter regelmäßig vom Vater verprügelt wird und mehrmals versucht, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen.
Dies alles erzählt Mertens in einer einfachen Sprache, ohne stilistische Kunstgriffe und dramaturgische Effekthascherei. Hier wird authentisch von einer Kindheit erzählt, die in ihrer Hoffnungs- und Trostlosigkeit eigentlich nur in der Katastrophe münden konnte. Der Autor mutet dem Leser eine Menge zu, macht ihn zum bloßen Beobachter einer gescheiterten Kindheit und lässt ihn nach der Lektüre hilflos und ohnmächtig zurück. 
Der Text wurde vom Verlag nur behutsam korrigiert, zumeist bei orthographischen Fehlern oder wenn das Verständnis nicht gewährleistet war. Der Bericht steht für sich allein, kein abschließender Kommentar liefert hilfreiche Erklärungen. Einzig das Vorwort Reinhart Lempps erzählt die Vorgeschichte zu diesem Buch. Somit bietet der Text ausreichend Spielraum für Diskussionen über die Folgen einer misslungenen Sozialisation. Torsten Seewitz, 17.04.2006

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