Als
Fritz Mertens im Alter von zwanzig Jahre zwei Menschen
tötete, kannte niemand dessen Geschichte. Keiner hatte
eine Ahnung, welches Martyrium er über die Jahre seiner
Kindheit hinweg in seinem Elternhaus durchleiden musste.
Jahre, die in unserem Leben zu den prägendsten zählen,
die unsere Persönlichkeit formen und den Grundstock
für unseren weiteren Lebensweg legen.
Der Jugendpsychiater Reinhart Lempp wird mit der
Untersuchung des Häftlings Fritz Mertens beauftragt. Er
ist es, der den Zwanzigjährigen motiviert, seine
Geschichte aufzuschreiben, als er spürte, dass in den
zahlreichen Gesprächen mehr war, was dieser erzählen
wollte, aber nicht in Worte fassen konnte. So entstand
der vorliegende Bericht, für den Lempp auf Bitten des
jungen Autors 1984 einen Verlag fand und der ihn unter
dem pathetisch klingenden Titel "Ich wollte Liebe
und lernte hassen!" in Buchform
veröffentlichte.
Der
Titel lässt bereits erahnen, was Mertens zu erzählen
hat. Ausführlich beschreibt er die ersten Jahre seiner
Kindheit, die geprägt war von häufigen
Krankenhausaufenthalten und martialisch anmutenden
Behandlungsmethoden der Ärzte. Im Nachgang betrachtet
schien diese Zeit jedoch die glücklichste gewesen zu
sein, obgleich glücklich hier sehr relativ zu
betrachten ist.
Von seinen Eltern bekommt er Zuwendung, aber nicht in
Form von Liebe und Wertschätzung. Da er das älteste
Kind in der Familie ist, bekommt er die Verantwortung
für seine Geschwister und den Haushalt übertragen.
Seine Mutter wechselt häufig ihre Arbeit, ebenso der
Vater. Beide ertränken ihren Frust mit Alkohol, was
häufig mit wahren Prügelorgien endet. Vor allem Fritz
ist der Leidtragende, der für Kleinigkeiten mit einem
Ledergürtel und später sogar mit einer Reitgerte
bestraft wird. Auch Essensentzug und Bettarrest gehören
zum Strafrepertoire der Eltern, die nicht nur mit der
Erziehung ihrer Kinder heillos überfordert sind,
sondern auch ihre Ehe nicht in den Griff bekommen. So
muss Fritz miterleben, wie seine Mutter regelmäßig vom
Vater verprügelt wird und mehrmals versucht, sich mit
Tabletten das Leben zu nehmen.
Dies alles erzählt Mertens in einer einfachen Sprache,
ohne stilistische Kunstgriffe und dramaturgische
Effekthascherei. Hier wird authentisch von einer
Kindheit erzählt, die in ihrer Hoffnungs- und
Trostlosigkeit eigentlich nur in der Katastrophe münden
konnte. Der Autor mutet dem Leser eine Menge zu, macht
ihn zum bloßen Beobachter einer gescheiterten Kindheit
und lässt ihn nach der Lektüre hilflos und ohnmächtig
zurück.
Der Text wurde vom Verlag nur behutsam korrigiert,
zumeist bei orthographischen Fehlern oder wenn das
Verständnis nicht gewährleistet war. Der Bericht steht
für sich allein, kein abschließender Kommentar liefert
hilfreiche Erklärungen. Einzig das Vorwort Reinhart
Lempps erzählt die Vorgeschichte zu diesem Buch. Somit
bietet der Text ausreichend Spielraum für Diskussionen
über die Folgen einer misslungenen Sozialisation.
Torsten Seewitz, 17.04.2006 |