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Helga Schneider
"Laß mich gehen"
Aus dem Italienischen von Helga Schmitt
Piper Verlag München 2003
178 S.; 15,90 Euro

Diesen Herbst des Jahres 1941 wird Helga nie vergessen. Als Vierjährige musste sie das Traumatischste miterleben, was einem Kind wiederfahren konnte - von der Mutter verlassen zu werden. Nicht weil diese ihres Lebens überdrüssig war, sondern einzig und allein um in die Reihen der SS einzutreten und ihrem Idol Adolf Hitler zu dienen. 
Die Ehe der Eltern wurde geschieden und der Vater verliebte sich schnell in eine neue Frau, Ursula. Wohl wollte er seinen Kindern, Helga und ihrem Bruder, den Verlust der leiblichen Mutter erleichtern, jedoch entpuppte sich seine neue Ehefrau als Albtraum für Helga. Als ungeliebte Stieftochter wurde sie in ein Heim für Schwererziehbare abgeschoben. Am
Rande des Wahnsinns, der den Verstand betäubt und den Lebenswillen raubt, tritt Helga in den Hungerstreik und wird erst im letzten Moment vor dem sicheren Tod gerettet. 
Dass man trotz derlei Erfahrenem weiterleben konnte, beweist der vorliegende Roman der italienischen Autorin Helga Schneider. Stark autobiographisch geprägt, erzählt sie von den traumatischen Erlebnissen ihrer Kindheit und von der schmerzvollen Annäherung an eine Frau, die ihre Familie aus purem Fanatismus für eine verachtenswerte Sache im Stich gelassen hatte. 
Helga Schneider stellt sich der Herausforderung, von ihrer Mutter zu erfahren, weshalb sie sie damals verlassen hat. Ein erster Kontakt im Jahre 1971 verlief äußert ernüchternd, denn Helgas Mutter lehnte jede Übernahme von Verantwortung für ihr damaliges Handeln ab. Auch Jahrzehnte nach ihrem plötzlichen Verschwinden ist sie unfähig, entschuldigenden Worte zu finden, im Gegenteil, sie beharrte auf die Richtigkeit ihrer damaligen Entscheidung. 
Nach diesem enttäuschenden Besuch hatte Helga die Erinnerungen an ihre Mutter in die hinterste Ecke ihres Gedächtnisses verbannt, hatte sie "gleichermaßen in Gedanken beerdigt". 
Nach 27 Jahren erreicht Helga dann ein Brief des Seniorenheimes, in welchem ihre Mutter, fast neunzigjährig, lebt, mit der Bitte, sie noch einmal zu besuchen. All das Verdrängte trat wieder zutage, all die unliebsamen Erinnerungen und all der Hass auf den Menschen, der ihr Leben zerstört hatte. Aber auch Neugier und die Hoffnung, die eigene Mutter ein wenig zu verstehen - ein nahezu unerträglicher Zustand, der unerbittlich an den Nerven zerrt.
Das beeindruckende an Helga Schneiders Roman ist vor allem die Aufrichtigkeit, mit der sie ihre ambivalenten Gefühle beschreibt. Fast dokumentarisch, in einer unprätentiösen Sprache erzählt sie vom Wiedersehen und dennoch geht jedes Wort unter die Haut. Kampfesgleich versucht Helga ihrer Mutter die Wahrheit über die damalige Zeit zu entreißen, doch die greise Frau sträubt sich vehement dagegen und versteckt sich hinter senilen Floskeln. In lichten Momenten offenbart sie jedoch ihr wahres Gesicht und erzählt voller Stolz und ohne selbstkritische Distanz von ihrem Alltag als Aufseherin in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Auschwitz-Birkenau. 
Im Nachgang wirkt der Roman wie ein Befreiungsschlag für die Autorin, deren Ringen um die richtigen Worte, gerade in den Momenten, in denen sich ihre Mutter an die Arbeit im KZ erinnert, förmlich spürbar wird. Sie kann ihrer Mutter nicht vergeben, auch wenn für einige Momente  ein vages Gefühl von Zuneigung für diese alte Frau aufflammt, die einfache Sehnsucht nach Geborgenheit und Liebe. © Torsten Seewitz, 17.03.2003

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