Diesen
Herbst des Jahres 1941 wird Helga nie vergessen. Als
Vierjährige musste sie das Traumatischste miterleben,
was einem Kind wiederfahren konnte - von der Mutter
verlassen zu werden. Nicht weil diese ihres Lebens
überdrüssig war, sondern einzig und allein um in die
Reihen der SS einzutreten und ihrem Idol Adolf Hitler zu
dienen.
Die Ehe der Eltern
wurde geschieden und der Vater verliebte sich schnell in
eine neue Frau, Ursula. Wohl wollte er seinen Kindern,
Helga und ihrem Bruder, den Verlust der leiblichen
Mutter erleichtern, jedoch entpuppte sich seine neue
Ehefrau als Albtraum für Helga. Als ungeliebte
Stieftochter wurde sie in ein Heim für Schwererziehbare
abgeschoben. Am Rande des
Wahnsinns, der den Verstand betäubt und den
Lebenswillen raubt, tritt Helga in den Hungerstreik und
wird erst im letzten Moment vor dem sicheren Tod
gerettet.
Dass man trotz derlei Erfahrenem weiterleben konnte, beweist
der vorliegende Roman der italienischen Autorin Helga
Schneider. Stark autobiographisch geprägt, erzählt sie
von den traumatischen Erlebnissen ihrer Kindheit und von
der schmerzvollen
Annäherung an eine Frau, die ihre Familie aus purem Fanatismus
für eine verachtenswerte Sache im Stich gelassen
hatte.
Helga Schneider
stellt sich der Herausforderung, von ihrer Mutter zu
erfahren, weshalb sie sie damals verlassen hat. Ein
erster Kontakt im Jahre 1971 verlief äußert
ernüchternd, denn Helgas Mutter lehnte jede Übernahme
von Verantwortung für ihr damaliges Handeln ab. Auch
Jahrzehnte nach ihrem plötzlichen Verschwinden ist sie
unfähig, entschuldigenden Worte zu finden, im
Gegenteil, sie beharrte auf die Richtigkeit ihrer
damaligen Entscheidung.
Nach diesem enttäuschenden Besuch hatte Helga die
Erinnerungen an ihre Mutter in die hinterste Ecke ihres
Gedächtnisses verbannt, hatte sie "gleichermaßen
in Gedanken beerdigt".
Nach 27 Jahren erreicht Helga dann ein Brief des
Seniorenheimes, in welchem ihre Mutter, fast
neunzigjährig, lebt, mit der Bitte, sie noch einmal zu
besuchen. All das Verdrängte trat wieder zutage, all
die unliebsamen Erinnerungen und all der Hass auf den
Menschen, der ihr Leben zerstört hatte. Aber auch
Neugier und die Hoffnung, die eigene Mutter ein wenig zu
verstehen - ein nahezu unerträglicher Zustand, der
unerbittlich an den Nerven zerrt.
Das beeindruckende an Helga Schneiders Roman ist vor
allem die Aufrichtigkeit, mit der sie ihre ambivalenten
Gefühle beschreibt. Fast dokumentarisch, in einer
unprätentiösen Sprache erzählt sie vom Wiedersehen
und dennoch geht jedes Wort unter die Haut.
Kampfesgleich versucht Helga ihrer Mutter die Wahrheit
über die damalige Zeit zu entreißen, doch die greise
Frau sträubt sich vehement dagegen und versteckt sich
hinter senilen Floskeln. In lichten Momenten offenbart
sie jedoch ihr wahres Gesicht und erzählt voller Stolz
und ohne selbstkritische Distanz von ihrem Alltag als
Aufseherin in den Konzentrationslagern Ravensbrück und
Auschwitz-Birkenau.
Im Nachgang wirkt der Roman wie ein Befreiungsschlag
für die Autorin, deren Ringen um die richtigen Worte,
gerade in den Momenten, in denen sich ihre Mutter an die
Arbeit im KZ erinnert, förmlich spürbar wird. Sie kann
ihrer Mutter nicht vergeben, auch wenn für einige
Momente ein vages Gefühl von Zuneigung für diese
alte Frau aufflammt, die einfache Sehnsucht nach
Geborgenheit und Liebe. © Torsten Seewitz, 17.03.2003 |