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George Tabori
"Autodafé"
Aus dem Amerikanischen von Ursula Grützmacher-Tabori
Wagenbach Berlin 2002 
92 S.; 15,50 Euro

Manch Autobiographie darf sich ihres enormen Umfanges rühmen. Aus unzähligen Seiten wird auch noch das Intimste in der Hoffnung aufgeschrieben, dass es irgendjemanden auf dieser Welt gibt, der sich dafür interessiert. Nicht selten langweilen solche Pamphlete ungemein und berühren zumeist peinlich. 
Nicht so das jüngste Buch des großen Schriftstellers und Dramaturgen George Tabori. Denn dessen "Autodafé" betitelte Erinnerungen begeistern von der ersten bis zur letzten Seite. Hier erzählt jemand aus seinem Leben, welches durchaus bewegt war, in einem lockeren, meist selbstironischen Plauderton, ohne jemals geschwätzig zu werden. "Meine Erinnerung gibt nicht allzu viele Geheimnisse her, sondern stammelt und springt undeutlich hin und her.", bemerkt Tabori an einer Stelle. Und vielleicht ist es dieses Nichteinhalten einer strengen Chronologie, was den zusätzlichen Reiz dieses Buches ausmacht.
Aufgewachsen in einem bürgerlichen Haushalt in Ungarn, wurde Taboris Kindheit recht bald "ertickt", wie er es nennt. Nicht durch den Krieg, wie man vermuten könnte, sondern durch das Kindermädchen Alma von Olmütz. Nymphoman veranlagte, verführte sie den kleinen George und wurde sofort für diese Untat vor die Tür gesetzt. Sie "...war für immer verschwunden, meine erste Geliebte, Alma von O.", bemerkt Tabori wehmütig im Alter von acht Jahren. 
Ebenso prägend erscheinen die Erlebnisse mit seinem sechs Jahre älteren Bruder Paul, der George nach seiner Geburt sanft und stolz in seinen Armen halten durfte, bis dieser ihm mit seinem Arm auf die Nase boxte. Wutentbrannt verkündete Paul: "Ich schmeiße ihn in die Donau" und mit dem Säugling zum Schrecken seiner Eltern aus der Wohnung verschwand. 
Paul, ein kleines Genie, der bereits mit zwölf Jahren mehrere Gedichte veröffentlichte, nahm es mit der Wahrheit, sehr zum Verdruss seines Vaters, nicht sehr genau und verstrickte sich regelmäßig in die phantastischsten Lügengeschichten. Eines Tages, Paul war mittlerweile ein gefeierter Journalist, erschien im "Pester Lloyd" ein Interview mit Thomas Mann, welches er mit ihm geführt haben wollte. Er wurde überall gefeiert, bis T. M. sich gegen dieses Interview verwahrte, welches er nie gegeben hatte. Die Lüge flog auf, und alles nur, weil Paul seinem Vater gefallen wollte. "An dem Tag,..., hörte er auf zu lügen. Er wurde ein anständiger Bürger...". 
Liebevoll und anekdotenreich stellt Tabori seine Familie vor. So bemerkt er lakonisch über seine Mutter, dass sie sich wenig für literarische Erinnerungen eignet, doch dass vielleicht gerade dieser Mangel an Geheimnissen sie geheimnisvoll mache. Resümierend  verleiht er ihr den Titel eines "altmodischen Muttertieres".
So könnte ich durchaus weiter zitieren, doch der Anreiz zum Lesen soll ja erhalten bleiben. Taboris Erinnerungen sind aus meiner Sicht ein kleines Juwel unter der Vielzahl von autobiographisch gefärbter Büchern, welches mit wenigen Worten den ganzen Kosmos eines bewegten Lebens vor dem inneren Auge des Lesers öffnet. © Torsten Seewitz, 04.12.2002

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