Ein schmales Bändchen erreicht nach
62 Jahren nun endlich seine deutschen Leser, obgleich sein Inhalt sehr eng mit
der verhängnisvollen Geschichte Deutschlands in den 30er und 40 Jahren des 20.
Jahrhunderts verbunden ist.1938 verfasste die bis dato unbekannte amerikanische
Autorin Kressmann Taylor diese Erzählung, die nach ihren Aussagen auf einem
realen Briefwechsel basierte.
Im gleichen Jahr erstmals in der Zeitschrift Story veröffentlicht und
1939 bei Simon & Schuster in Buchform verlegt, wurde "Adressat
unbekannt" von Journalisten und Lesern als "stärkste Anklage gegen
den Nationalsozialismus" in Deutschland gelesen. Angesichts der weltweit
zunehmenden Fremdenfeindlichkeit veröffentlichte Story Taylors
Erzählung 1992 nochmals. Und wieder reagierten die Leser, wie bereits zur Zeit
ihrer ersten Publikation, mit der gleichen Betroffenheit auf dieses Stück
zeitlose Literatur.
In der Form eines Briefwechsels erzählt Kressmann Taylor die verhängnisvolle
Geschichte der amerikanischen Galeristen Bruno Schulse und Max Eisenstein. Beide
verbindet neben dem erfolgreichen Geschäft das Geheimnis einer
leidenschaftlichen Affäre des verheirateten Brunos mit der Schwester
Eisensteins, Griselle.
Nach Jahren erfolgreicher Zusammenarbeit entschließt sich Schulse 1932 in seine
Heimat Deutschland zurückzukehren. Auch Griselle ist nach Deutschland gereist,
um hier eine Karriere als Schauspielerin zu beginnen.
Max bittet seinen Freund, auf seine Schwester Obacht zu geben, vor allem nach
den beängstigenden Nachrichten aus Deutschland in Folge der Machtergreifung
Hitlers.
Entgegen den Wahrnehmungen seines Freundes Max ist Schulse von Hitler angetan
und begreift ihn als einen Mann wie "ein elektrischer Schock", der
Deutschland aus der Krise führen kann.
Die Briefe an Max schreibt Schulse mittlerweile auf dem Geschäftspapier seiner
Bank, um der strengen Postzensur zu entgehen und um Max letztendlich zu bitten,
ihm nicht mehr zu antworten. Doch dieser will die langjährige Freundschaft
nicht beendet sehen und hofft auf einen Gesinnungswandel Brunos.
Als Schulse jeden weiteren Kontakt mit ihm vehement ablehnt und in einer
dramatischen Situation den Tod Griselles durch einen sie verfolgenden SA-Trupp
verschuldet, greift Max zu einem letzten Mittel - er rächt den Tod seiner
geliebten Schwester.
Fortan schreibt er offen Briefe an Schulse, die die deutschen Zensoren an eine
geschäftliche Beziehung zwischen ihm und Eisenstein, einem Juden, glauben
lassen. Obwohl Schulse in einem flehenden Brief um Vergebung bittet, schreibt
Max weitere Briefe, bis ihm eines Tages ein retournierter Brief mit dem Vermerk
"Adressat unbekannt" erreicht.
Kressmann Taylor gelingt mit minimalen erzählerischen Mitteln das Kunststück,
den Leser Brief für Brief gefangen zunehmen und ihn in die fatalen Folgen der
deutschen Geschichte zur Zeit des Faschismus begreifen zu lassen. Gerade die
Form des Briefwechsels steigert die Illusion einer authentischen Geschichte und
provoziert so beim Leser Betroffenheit und Parteinahme.
In einer Zeit, in der gerade in Deutschland Rechtsradikalismus und
Antisemitismus im zunehmen begriffen sind, sollte dieses Buch zur
Pflichtlektüre in Schulen erhoben werden. Vielleicht könnte somit der
mangelnden Sensibilität für historische Verantwortung, vor allem der jüngeren
Generation, vorgebeugt werden. ©Torsten Seewitz, 30.10.2000 |