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Javier Tomeo
"Napoleon VII."

Aus dem Spanischen von Fritz Rudolf Fries
Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2000
128 Seiten, 14,50 €

Dass die Legende Napoleon auch im 20. Jahrhundert in Persona weiterlebt, sollte man nicht glauben. Doch erzählt Javier Tomeo in seinem aktuellen Roman "Napoleon VII." eben diese Geschichte. Die Geschichte von Hilario, einem Herrscher über seine Pariser Etagenwohnung mit Balkon und Fernsehen. Eines Morgens stellt dieser, beim Blick in den Spiegel fest, daß er sich in Napoleon verwandelt hatte. Die standesgemäße Kleidung war in einem Kostümgeschäft schnell besorgt und in zahlreichen Büchern las er sich das notwendige Wissen über sein Idol an. Fortan konnte seiner Regentschaft nichts mehr im Wege stehen.
Von seinem Balkon aus hält er glühende Reden an seine imaginären Untertanen und führt sie im Traum erfolgreich in die Schlacht gegen Russland. Weil auch ein großer Feldherr nicht alle Entscheidungen allein treffen kann, berät er sich mit General Murat, der in Form seines großen Zehes, welcher durch ein Loch im Strumpf hervorlugt, in Erscheinung tritt. Manchmal verwandelt sich der Zeh aber auch in seinen persönlichen Sekretär Bourraine, und Hilario stört es dabei wenig, wenn dieser mit seiner Stimme zu ihm spricht. Vielmehr stört ihn die heimliche Verschwörung seiner Geliebten Josephine, die er in der Gestalt einer kochenden Fernsehmoderatorin wiederzuerkennen glaubt.
Mit "Irrwitzig, verrückt, unglaublich!" könnte die Handlung des Romans charakterisiert werden, doch trifft dies nicht den Kern des Erzählten. Tomeo erzählt, und dies mit einer gehörigen Protion schwarzen Humors, vom langsamen Fortschreiten eines Wahns, in dem die Grenzen zwischen Realität und Scheinwelt zunehmend ihre Konturen verlieren. Endlich konnte Hilario seiner Einsamkeit entfliehen, die er nicht mehr ertrug. Die Verwandlung in Napoleon, die Flucht in den Wahn, wurde für ihn zum Segen und Fluch.
Tomeo macht den Leser zum Zeugen dieses Untergangs. Der anfängliche Belustigung über den "Verrückten" folgt mit fortschreitender Handlung das blanke Entsetzen. Hilario empfindet seine Umwelt nur noch als Bedrohung und schreckt letzten Endes auch vor dem Äußersten nicht schreckt, um diese Gefahr abzuwehren. ©Torsten Seewitz, 31.01.2001

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