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Walter Kempowski
„Alles umsonst“
Knaus Verlag
München 2006
383 S., 21,95 €  

Anfangs war ich irritiert. Der flapsige  Plauderton, in dem Kempowski die Massenflucht aus Ostpreußen beschreibt, erschien mir unangemessen. Schließlich wurden bis zum Kriegsende 1945 über 600.000 Menschen gezählt, die auf der Flucht vor den sowjetischen Truppen erfroren oder verhungerten, erschlagen, erhängt oder erschossen wurden. Der Leser erfährt sehr wenig über die Gefühle der Protagonisten, die stellvertretend für die Vielen stehen. Und so ist es nicht immer leicht, sich in sie einzufühlen. Kempowski charakterisiert bzw. typisiert seine (Anti-)Helden mit knappen Worten und vielen Fragezeichen - den Symbolen für Unsicherheit. Er benutzt seine Figuren gewissermaßen, um ein Stück deutscher Geschichte erlebbar zu machen. Und das ist ihm auf ungewöhnliche Art hervorragend gelungen. 
Ort des Geschehens ist Mitkau, eine kleine Stadt in Ostpreußen, wo im eiskalten Januar 1945 die Bewohner eines Gutshofs nicht begreifen können oder wollen, dass Hitler ihnen statt des versprochenen Endsiegs Vertreibung und Tod beschert hat. Sie beherbergen vorbeiziehende Flüchtlinge, die Farbe und Abwechslung in den tristen, ungewissen  Alltag bringen und tauschen mit ihnen Gerüchte und Vermutungen, Floskeln und (heute indiskutable) Gesinnungen aus. Gepackte Koffer und Kisten stehen bereit, doch ein Aufbruch ohne offizielle Genehmigung ist verboten und würde als Beweis gewertet, der Wehrmacht zu misstrauen. Man will nicht in Schwierigkeiten geraten… Obwohl die Ostfront mit Kanonendonner und Feuerschein immer näher rückt, sagt Onkel Josef am Telefon, „es seien in der Nacht wieder eine Reihe von Panzern vorüber gekommen, Waffen-SS, er denke, die werden`s schon richten. So dumm sei Hitler nicht, dass er die Russen ins Land lässt. Der lasse sie vielleicht ein Stückchen hinein, aber dann ziehe er den Sack zu."
Die Diskrepanz zwischen Sein und Bewusstsein der ideologisch gefangenen Menschen macht für eine „Nachgeborene“ wie mich die Spannung des Buches aus. Das Nicht-wahr-haben-wollen von Tod und Verderben ist aber auch eine psychologische Schutzfunktion, die Überlebenskräfte freisetzt. Und aufs Überleben kommt es schließlich an im endlosen Flüchtlingstreck gen Westen, der en detail „durch die Brille“ der Protagonisten veranschaulicht wird. Der Leser folgt den Figuren und ihren Schicksalen – etwas distanziert und doch mitgerissen. Er fühlt sich aufgrund seines historischen Überblick-Wissens den handelnden Personen überlegen und sich ihnen gleichzeitig verbunden: wir alle, jeder Einzelne – ein Körnchen im Treibsand der Historie.  Erika Pillardy, 8. Februar 2007        

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