"Haben
Sie das alles gelesen?". Welcher Büchersammler
kennt ihn nicht, diesen Ausruf, hervorgebracht von
Besuchern in Betrachtung wohlgefüllter Regale.
Natürlich wirkt diese Frage auf den Befragten naiv. So
denkt er sich oder sagt es laut, dass man ja nicht jedes
Buch, welches man besitzt, gelesen haben muss. Es
könnte aber einen Zeitpunkt geben, an dem sich dessen
Besitz als nützlich herausstellt.
Diese Betrachtungsweise stellt jedoch nur eine von
vielen Möglichkeiten dar, wie die eingangs gestellte
Frage von einem Buchliebhaber beantwortet werden
könnte.
Von vielen weiteren Varianten erzählt Klaus Walther in
seinem kleinen und äußerst kurzweiligen Essayband
"Bücher sammeln".
Er führt den interessierten Leser in die Welt
bibliophiler Kostbarkeiten und lässt ihn die
prunkvollsten Bibliotheken bestaunen. Auch lädt er ihn
ein, Gast bei bekannten Sammlern, wie
Ernst Jünger oder Werner Klemke, zu sein. Kaum
vorstellbar scheint für den Normalleser, dass deren
Bibliotheken weit mehr als 20000 Bände umfassten. Bei
diesen Zahlen wundert es auch nicht, dass die Lösung
des Platzproblems zu den drängendsten Aufgaben
gehörte. Eine knifflige Herausforderung, die meistens
mit der Anmietung von Wohn- oder Lagerraum in der
Nachbarschaft gelöst wurde.
Doch ist die Welt der Bibliophilen nicht nur mit
friedfertigen Lesern bevölkert, denn wo Leidenschaften
den Jagdinstinkt bestimmen, ist das Verbrechen meist
nicht weit. So berichtet Klaus Walther vom Pfarrer
Johann Georg Tinius, der, um seine Sammellust zu
befriedigen, selbst vor Raub und Mord nicht
zurückschreckte. Auf diese unredliche Weise führte er
seiner 180000bändigen Bibliothek das eine oder andere
Buch zu. Die zu verbüßende Zuchthausstrafe von 10
Jahren wirkt dagegen als ein sehr mildes Urteil.
Um auf die eingangs gestellte Frage noch einmal
einzugehen: Natürlich muss man Bücher nicht unbedingt
lesen. Manchmal reicht das sinnliche Erlebnis, ein
bestimmtes Buch zu berühren und die Gewissheit zu
besitzen, dass es bereits zu Lebzeiten des Dichters
erschienen ist. Ähnlich verhält es sich mit
Autographen. Denn welcher, wenn auch nur gering, an
Literatur Interessierte möchte bestreiten, dass es ein
unglaubliches Erlebnis darstellt, einen eigenhändig von
Goethe unterzeichneten Brief in den Händen zu halten.
Doch es geht ebenso um den Besitz einer bestimmten
Werkausgabe oder um das Sammeln von Büchern einer
bestimmten Reihe, wie die
der INSEL-Bücherei.
Letztendlich unterscheidet sich die Welt der
Büchersammler gar nicht so sehr von der anderer
Sammler. Auch hier steht die Leidenschaft und Jagd nach
Raritäten im Vordergrund. Doch bewahren sie, auf
Tausende mehr oder weniger umfangreiche
Privatbibliotheken verteilt, das schriftliche Gedächtnis einer Nation.
Torsten Seewitz,
23.02.05 |