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Christa Wolf
"Ein Tag im Jahr 1960 - 2000"
Luchterhand Verlag München 2003
630 S.; 25,00 Euro

Als Maxim Gorki 1935 das Unternehmen "Ein Tag der Welt" ins Leben rief, mit welchem er die Schriftsteller aller Länder aufforderte, den 27. September aus ihrer Sicht zu beschreiben, war nicht absehbar, dass diese Idee 1960 von der Moskauer Zeitung "Iswetija" noch einmal aufgegriffen wurde und dass es einmal eine deutsche Schriftstellerin geben würde, die das Berichten über diesen einen Tag im Jahr zu einer über 40 Jahre währenden Tradition werden ließ. Diese Schriftstellerin heißt Christa Wolf.
Was bewegte jedoch die Autorin, Ereignisse eines Tages über Jahrzehnte so detailliert festzuhalten? In dem nun vorliegenden Buch "Ein Tag im Jahr. 1960 - 2000" gibt sie in einer Art Vorwort eine plausible Antwort - die Angst vor dem Vergessen. Christa Wolf wollte für sich begreifen, wie sich individuelles Leben zusammensetzt. Zwar ist es auf diese Weise, nur schwer möglich Entwicklungen festzuhalten, doch mit der Zeit würde sich ein "Art Diagnose" ergeben. Zudem bietet diese Form des Tagebuchs, zwar punktuell auf einen Tag festgelegt, eine andere Möglichkeit zur Selbstreflektion und zur Beobachtung, wie sich Mitmenschen entwickelt haben. Besonders deutlich wird dies an der Beschreibung ihrer Töchter, deren Aufwachsen man förmlich miterleben kann. Vor allem die jüngerer Tochter Tinka gerät unbewußt in den Mittelpunkt der Aufzeichnungen, da der 27. September der Tag vor ihrem Geburtstags ist. Fast leitmotivisch ziehen sich die Beschreibungen der Vorbreitungen dieses Tages durch Christa Wolfs Aufzeichnungen. Gerade in diesen Passagen erlebt der Leser die Autorin nicht als in hochgeistigen Sphären schwebende Intellektuelle, sondern als fürsorgliche Mutter. Eine beruhigende Erkenntnis, wird doch Christa Wolf gern auf einen Thron gehoben, der ihr Ikonenstatus verleiht, also etwas Übermenschliches impliziert.
Doch nicht nur dieser Erkenntnis wegen, lohnt sich die Lektüre der Tagebuchaufzeichnungen, sondern auch, um zu verstehen, daß Schreiben schwere Arbeit darstellt. So betrachtet ist "Ein Tag im Jahr" auch eine Art Werkstattbericht. Die Kenntnis ihrer Werke vorausgesetzt, kann der interessierte Leser einen Einblick erhalten, unter welchen teils großen Anstrengungen so mancher literarischer Text entstand. So schafft es Christa Wolf selten, den von ihr angestrebten Arbeitsbeginn einzuhalten. Zu oft fordert die Familie ihren Tribut. Häufig ist es auch selbstgewählte Ablenkung Schuld, um der manchmal unliebsamen Tätigkeit des Schreibens auszuweichen.
Es es nicht anders als mutig zu nennen, dass Christa Wolf zu Lebzeiten intime Einblicke in ihr Leben gewährt. Gerade im Hinblick auf die unmittelbaren Nachwendejahre, in denen Journalisten immer wieder versuchten, sie vom Sockel der erfolgreichen und beliebten Autorin zu stoßen, offenbart ihr Tagebuch einen Einblick in ihre Gefühlswelt. Obzwar man ihrem Werk Hinweise entnehmen kann, daß die Gesundheit Christa Wolfs zumeist dann gefährdet ist, wenn große psychische Belastungen ihr Leben bestimmen, bekommt man ein Gespür für ihre Sensibilität ihrer Umwelt gegenüber. Wenn man es so sehen will, wirkt ihr Körper als Seismograph zumeist gesellschaftlicher Unzulänglichkeiten.
Oft wurde Christa Wolf gefragt, weshalb sie die DDR nach 1976 nicht verlassen habe. Die Antwort darauf kann man in den Aufzeichnungen der Jahre nach der Biermann-Ausbürgerung entnehmen. Heimat, ein Gefühl von Angekommensein und die Angst um den Verlust dieses sicheren Hortes ist ein entscheidendes Moment gewesen. Daß politisch in der DDR vieles im Argen lag, war auch Christa Wolf bewußt. Oft konnte sie ihren Status als eine der führenden Intellektuellen der DDR nutzen, um Einfluß auf zumeist kulturpolitische Entscheidungen zu nehmen, doch waren auch ihre Möglichkeiten der Mitsprache nicht unbegrenzt.
Die Stoffe ihrer Literatur bezog sie aus der Reibung individueller Ansprüche mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten. Und gerade hier bot ein Leben in der DDR reichlich Material.
Gerade in den Aufzeichnungen des 27. September finden sich zahlreiche Hinweise auf das Leiden an den Zuständen in diesem Staat. Doch bot der Rückzug in die Familie, vor allem die enge Beziehung zu ihrem Mann Gerd Wolf, und in den Freundeskreis ausreichend Halt, um an den später unhaltbaren Zuständen des sozialistischen Systems nicht zu zerbrechen.
Bei der Lektüre fällt auf, dass gerade die Aufzeichnungen der letzten Jahre etwas an Tiefgründig- und Ausführlichkeit verlieren. Die Beschreibungen medialer Erfahrungen, vornehmlich des Fernsehens, nehmen zu. Insofern sind die Tagebucheinträge auch als ein individuelles Abbild gesellschaftlicher Phänomene zu verstehen.
In diesem Sinne sei das Buch "Ein Tag im Jahr" vor allem jenen Lesers uneingeschränkt empfohlen, die einen tieferen Einblick in den Alltag und Schaffensprozeß Christa Wolfs erhalten wollen und darüber hinaus Informationen über das Leben von Intellektuellen in der DDR suchen. ©Torsten Seewitz, 07.11.2003

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