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Irvin D. Yalom
„Die Schopenhauer-Kur"
Btb Verlag 2005
434 S., 21,90 Euro

Als ich vor ungefähr fünfzehn Jahren meine erste Bekanntschaft mit Yalom machte („Die rote Coutch“), war ich begeistert. Der Mann verstand es, seine Erfahrungen als Psychiater und Psychotherapeut belletristisch umzusetzen. Er präsentiert seine „Fälle“ als spannende, psychodramatische Episoden, in denen der Leser sich wieder findet und gleichzeitig einen Blick „hinter die Kulissen“ des Therapeuten werfen kann.
Inzwischen ist der amerikanische Professor für Psychiatrie 74 Jahre alt und versucht, in Form seines Romans eine Lebensbilanz zu ziehen. Dazu bedient er sich einer Rahmenhandlung, in der „Julius“, 65, ein an Hautkrebs erkrankter Psychotherapeut, sein letztes Lebensjahr dazu nutzt, im Rahmen psychotherapeutischer Gruppenarbeit seinen ehemaligen Patienten „Philip“ doch noch zu heilen. Vor 20 Jahren hatte Julius ihm helfen wollen, seine Sexsucht in den Griff zu bekommen. Doch das gelang nicht. Die Erinnerung an diesen Misserfolg trübt die Lebenszufriedenheit von Julius, und er nimmt zu Philip Kontakt auf.
Philip ist noch immer der gefühlskalte, scharf denkende Verstandesmensch von einst. Doch von seiner Sexsucht hat er sich – man höre und staune – durch seine Vertiefung in das philosophische Gedankengut von Arthur Schopenhauer selbst geheilt. Philip, der sich wegen seiner Sexsucht jahrelang selbst verachtet hat, verachtet nun alle anderen außer sich selbst. Doch damit nicht genug. Er teilt Julius mit, dass er in Philosophie promoviert hat und als „philosophischer Berater“ bzw. „Klinischer Philosoph“ tätig ist. Für eine staatliche Lizenz als Therapeut benötigt er noch 200 Stunden professionelle Supervision, um die er Julius bittet.
Julius ist schockiert. Seine Psychotherapie basiert auf einem zutiefst humanistisches Menschenbild: sei empathisch und menschenfreundlich, fürsorglich und wertschätzend. In krassem Gegensatz dazu steht die misanthropische Weltsicht von Philip. Julius kann es nicht verantworten, Philip auf andere Menschen loszulassen und einigt sich mit ihm auf einen Deal: vor Beginn der Supervision muss der beziehungslos lebende Einzelgänger sechs Monate lang an den gruppentherapeutischen Sitzungen von Julius teilnehmen. Die Gruppentherapie unter der Leitung von Julius gerät – wie nicht anders zu erwarten – zu einem subtilen Machtkampf zwischen Julius und Philip, der schließlich mit der „Menschwerdung“ von Philip und dem Tod von Julius endet.
Ein interessanter Plot, der den Leser über weite Strecken fesselt. Doch die minutiöse dialogische Wiedergabe der gruppendynamischen Therapiesitzungen in Originallänge wirkt ermüdend. Yalom nimmt sie zum Anlass, seine hilfreichen Interventionen methodisch-didaktisch zu begründen. Das mag den fachlich interessierten Leser weiterbilden. Doch jemanden, der sich auf einen anspruchsvollen und unterhaltsamen Roman eingestellt hat, verstimmt es etwas, sich immer wieder auf ein Lehrer-Schüler-Verhältnis einlassen zu müssen.
Die Idee Yaloms, sich bedeutenden Philosophen psychoanalytisch zu nähern, hat mich in seinem Roman „Und Nietzsche weinte“ fasziniert. In der „Schopenhauer-Kur“ gibt es aber keine fiktionale Begegnung mit diesem Philosophen, sondern der Leser muss ertragen, dass Yalom die personale Erzählperspektive seines Romans ständig unterbricht und sich der posthumen Begutachtung Schopenhauers zuwendet. Das bringt den Leser in Distanz zum Protagonisten. Er fühlt sich vom Autor verlassen, während der seine hervorragenden Fähigkeiten als psychoanalytischer Gutachter unter Beweis stellt. Damit verletzt Yalom sein eigenes Credo, wonach die Beziehungsebene immer wichtiger ist als die Sachebene. Das sollte auch für die Beziehung zwischen Autor und Leser gelten. Erika Pillardy, 3.09.06

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