Als
ich vor ungefähr fünfzehn Jahren meine erste
Bekanntschaft mit Yalom machte („Die rote Coutch“),
war ich begeistert. Der Mann verstand es, seine
Erfahrungen als Psychiater und Psychotherapeut
belletristisch umzusetzen. Er präsentiert seine „Fälle“
als spannende, psychodramatische Episoden, in denen der
Leser sich wieder findet und gleichzeitig einen Blick
„hinter die Kulissen“ des Therapeuten werfen kann.
Inzwischen ist der amerikanische Professor für
Psychiatrie 74 Jahre alt und versucht, in Form seines
Romans eine Lebensbilanz zu ziehen. Dazu bedient er sich
einer Rahmenhandlung, in der „Julius“, 65, ein an
Hautkrebs erkrankter Psychotherapeut, sein letztes
Lebensjahr dazu nutzt, im Rahmen psychotherapeutischer
Gruppenarbeit seinen ehemaligen Patienten „Philip“
doch noch zu heilen. Vor 20 Jahren hatte Julius ihm
helfen wollen, seine Sexsucht in den Griff zu bekommen.
Doch das gelang nicht. Die Erinnerung an diesen
Misserfolg trübt die Lebenszufriedenheit von Julius,
und er nimmt zu Philip Kontakt auf.
Philip ist noch immer der gefühlskalte, scharf denkende
Verstandesmensch von einst. Doch von seiner Sexsucht hat
er sich – man höre und staune – durch seine
Vertiefung in das philosophische Gedankengut von Arthur Schopenhauer
selbst geheilt. Philip, der sich wegen seiner Sexsucht
jahrelang selbst verachtet hat, verachtet nun alle
anderen außer sich selbst. Doch damit nicht genug. Er
teilt Julius mit, dass er in Philosophie promoviert hat
und als „philosophischer Berater“ bzw. „Klinischer
Philosoph“ tätig ist. Für eine staatliche Lizenz als
Therapeut benötigt er noch 200 Stunden professionelle
Supervision, um die er Julius bittet.
Julius ist schockiert. Seine Psychotherapie basiert auf
einem zutiefst humanistisches Menschenbild: sei
empathisch und menschenfreundlich, fürsorglich und
wertschätzend. In krassem Gegensatz dazu steht die
misanthropische Weltsicht von Philip. Julius kann es
nicht verantworten, Philip auf andere Menschen
loszulassen und einigt sich mit ihm auf einen Deal: vor
Beginn der Supervision muss der beziehungslos lebende
Einzelgänger sechs Monate lang an den
gruppentherapeutischen Sitzungen von Julius teilnehmen.
Die Gruppentherapie unter der Leitung von Julius gerät
– wie nicht anders zu erwarten – zu einem subtilen
Machtkampf zwischen Julius und Philip, der schließlich
mit der „Menschwerdung“ von Philip und dem Tod von
Julius endet.
Ein interessanter Plot, der den Leser über weite
Strecken fesselt. Doch die minutiöse dialogische
Wiedergabe der gruppendynamischen Therapiesitzungen in
Originallänge wirkt ermüdend. Yalom nimmt sie zum
Anlass, seine hilfreichen Interventionen
methodisch-didaktisch zu begründen. Das mag den
fachlich interessierten Leser weiterbilden. Doch
jemanden, der sich auf einen anspruchsvollen und
unterhaltsamen Roman eingestellt hat, verstimmt es
etwas, sich immer wieder auf ein
Lehrer-Schüler-Verhältnis einlassen zu müssen.
Die Idee Yaloms, sich bedeutenden Philosophen
psychoanalytisch zu nähern, hat mich in seinem Roman
„Und Nietzsche weinte“ fasziniert. In der „Schopenhauer-Kur“
gibt es aber keine fiktionale Begegnung mit diesem
Philosophen, sondern der Leser muss ertragen, dass Yalom
die personale Erzählperspektive seines Romans ständig
unterbricht und sich der posthumen Begutachtung
Schopenhauers zuwendet. Das bringt den Leser in Distanz
zum Protagonisten. Er fühlt sich vom Autor verlassen,
während der seine hervorragenden Fähigkeiten als
psychoanalytischer Gutachter unter Beweis stellt. Damit
verletzt Yalom sein eigenes Credo, wonach die
Beziehungsebene immer wichtiger ist als die Sachebene.
Das sollte auch für die Beziehung zwischen Autor und
Leser gelten. Erika Pillardy, 3.09.06 |