Gar
Grausiges soll in der chinesischen Provinz geschehen.
Die Parteikader, so sagt man, kaufen kleine Kinder von
veramten Bauern und bereiten sie dann zu, um sie im
Rahmen festlicher Empfänge zu verzehren.
Ding Gou'er wird von der Staatsanwaltschaft mit der
Ermittlung in diesem besonders heiklen Fall beauftragt
und in die "Schnapsstadt" Jiuguo entsandt.
Doch bereits zu Beginn seiner Arbeit gelangt der
Ermittler in die Fänge korrupter Parteikader in der
Zeche "Luoshan", die ihn mit Alkohol seines
Verstandes zu berauben versuchen und ihn am Ende eines
eigens für ihn veranstalteten Festmahles ein gebratenes
und appetitlich dekoriertes Kind servieren lassen.
Volltrunken und nur noch das lächerliche Abbild eines
staatlichen Ermittlers darstellend, versucht Gou' er die
Kader mit seiner Waffe zu bedrohen, doch haben die
Unmengen an Alkohol ihm seinen Verstand geraubt.
Die Parteikader versuchen ihn zu beruhigen und von dem
Gedanken abzubringen,
ihm wurde ein "echtes" Kind serviert, alles
bestehe aus Obst und Gemüse kunstvoll arrangiert.
Letztendlich lässt sich Gou'er sogar dazu hinreißen,
ein Stück zu kosten und ist begeistert von dem
köstlichen Geschmack.
Zugegeben, ein wenig makaber wirkt derart Beschriebenes.
Doch lässt Mo Yan offen, ob sein Protagonist Mittäter
oder nur Opfer einer täuschend echten Illusion
wurde.
Der Leser folgt, so er denn will, sich auf den Roman
einzulassen, einer düsteren Story quer durch die
Abgründe der modernen chinesischen Gesellschaft,
angefangen von Korruption und der Selbstgefälligkeit
hoher Beamter, der Verarmung der unteren
Bevölkerungsschichten und deren Verhaftung mit alten
Traditionen und immer wieder der übermäßige Konsum
von Alkohol. Gerade dieses letztere Thema durchzieht den
Roman wie ein roter Faden.
Mo Yan bedient sich hierbei einer geschickten
Konstruktion. Mit Hilfe eines fiktiven Briefwechsels,
den der Autor mit einem jungen Mann führt, der ihm
hoffnungsvoll seine Geschichten zur Beurteilung schickt,
reflektiert Yan den Inhalt seines Romans und fügt ihm
neue Episoden hinzu. Die Erzählungen des jungen Mannes
werden in Folge ungekürzt wiedergegeben und stellen
eine Art Intermezzo zur Geschichte des Ding Gou'er und
seinen Ermittlungen dar. Interessant ist, dass die
Grenzen zwischen beiden Autoren mit fortlaufender
Handlung zusehends verwischen. Es wird immer
undeutlicher, welcher von beiden Autoren Figuren und
Ideen beim jeweils anderen entlehnt. Dies mag verwirrend
klingen, stellt aber einen besonderen Reiz des Romans
dar.
Geschichten, angesiedelt in der Gegenwart, wechseln mit
mysteriösen Erzählungen aus dem Reich der Legenden und
Sagen ab und bieten so ein breites Panorama der
chinesischen Kulturgeschichte. Gerade die
detailversessenen Schilderungen zum Beispiel
traditioneller chinesischer Speisen öffnen uns
Europäern die Augen, jedoch nicht die Mägen. Doch
nicht nur die kulturhistorischen Bezüge zeichnen Mo
Yans Roman aus, sondern auch seine stilistische
Perfektion im kunstvollen Verweben verschiedener
Erzählebenen, die am Ende wie selbstverständlich
zusammenlaufen.
Noch ein Wort zum so viel beschworenen Alkohol. Mo Yan
gibt ein einer Stelle preis, dass er einen Roman über
die Folgen von übermäßigem Genuss dieser Droge
schreiben wollte. Auch dies ist ihm gelungen, denn über
Beschreibung verschiedener Destillationsverfahren,
die detaillierte Wiedergabe der feinen
Geschmacksnuancen, zum Beispiel des Affenschnapses, bis
hin zu der sehr bildhaften Darstellung unterschiedlicher
Stadien des Deliriums könnte der Roman als kleine
Alkoholkunde gelten. © Torsten Seewitz, 19.12.2002 |