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Mo Yan
"Die Schnapsstadt"
Aus dem Chinesischen von Peter Weber-Schäfer
512 S.; 24,90 Euro
Rowohlt Reinbek 2002

Gar Grausiges soll in der chinesischen Provinz geschehen. Die Parteikader, so sagt man, kaufen kleine Kinder von veramten Bauern und bereiten sie dann zu, um sie im Rahmen festlicher Empfänge zu verzehren.
Ding Gou'er wird von der Staatsanwaltschaft mit der Ermittlung in diesem besonders heiklen Fall beauftragt und in die "Schnapsstadt" Jiuguo entsandt. Doch bereits zu Beginn seiner Arbeit gelangt der Ermittler in die Fänge korrupter Parteikader in der Zeche "Luoshan", die ihn mit Alkohol seines Verstandes zu berauben versuchen und ihn am Ende eines eigens für ihn veranstalteten Festmahles ein gebratenes und appetitlich dekoriertes Kind servieren lassen. Volltrunken und nur noch das lächerliche Abbild eines staatlichen Ermittlers darstellend, versucht Gou' er die Kader mit seiner Waffe zu bedrohen, doch haben die Unmengen an Alkohol ihm seinen Verstand geraubt. 
Die Parteikader versuchen ihn zu beruhigen und von dem Gedanken abzubringen, 
ihm wurde ein "echtes" Kind serviert, alles bestehe aus Obst und Gemüse kunstvoll arrangiert. Letztendlich lässt sich Gou'er sogar dazu hinreißen, ein Stück zu kosten und ist begeistert von dem köstlichen Geschmack. 
Zugegeben, ein wenig makaber wirkt derart Beschriebenes. Doch lässt Mo Yan offen, ob sein Protagonist Mittäter oder nur Opfer einer täuschend echten Illusion wurde. 
Der Leser folgt, so er denn will, sich auf den Roman einzulassen, einer düsteren Story quer durch die Abgründe der modernen chinesischen Gesellschaft, angefangen von Korruption und der Selbstgefälligkeit hoher Beamter, der Verarmung der unteren Bevölkerungsschichten und deren Verhaftung mit alten Traditionen und immer wieder der übermäßige Konsum von Alkohol. Gerade dieses letztere Thema durchzieht den Roman wie ein roter Faden.
Mo Yan bedient sich hierbei einer geschickten Konstruktion. Mit Hilfe eines fiktiven Briefwechsels, den der Autor mit einem jungen Mann führt, der ihm hoffnungsvoll seine Geschichten zur Beurteilung schickt, reflektiert Yan den Inhalt seines Romans und fügt ihm neue Episoden hinzu. Die Erzählungen des jungen Mannes werden in Folge ungekürzt wiedergegeben und stellen eine Art Intermezzo zur Geschichte des Ding Gou'er und seinen Ermittlungen dar. Interessant ist, dass die Grenzen zwischen beiden Autoren mit fortlaufender Handlung zusehends verwischen. Es wird immer undeutlicher, welcher von beiden Autoren Figuren und Ideen beim jeweils anderen entlehnt. Dies mag verwirrend klingen, stellt aber einen besonderen Reiz des Romans dar. 
Geschichten, angesiedelt in der Gegenwart, wechseln mit mysteriösen Erzählungen aus dem Reich der Legenden und Sagen ab und bieten so ein breites Panorama der chinesischen Kulturgeschichte. Gerade die detailversessenen Schilderungen zum Beispiel traditioneller chinesischer Speisen öffnen uns Europäern die Augen, jedoch nicht die Mägen. Doch nicht nur die kulturhistorischen Bezüge zeichnen Mo Yans Roman aus, sondern auch seine stilistische Perfektion im kunstvollen Verweben verschiedener Erzählebenen, die am Ende wie selbstverständlich zusammenlaufen. 
Noch ein Wort zum so viel beschworenen Alkohol. Mo Yan gibt ein einer Stelle preis, dass er einen Roman über die Folgen von übermäßigem Genuss dieser Droge schreiben wollte. Auch dies ist ihm gelungen, denn über Beschreibung verschiedener Destillationsverfahren, 
die detaillierte Wiedergabe der feinen Geschmacksnuancen, zum Beispiel des Affenschnapses, bis hin zu der sehr bildhaften Darstellung unterschiedlicher Stadien des Deliriums könnte der Roman als kleine Alkoholkunde gelten. © Torsten Seewitz, 19.12.2002

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