Anonymus
„Wohin mit
Vater?
Ein Sohn verzweifelt am Pflegesystem"
S. Fischer Verlag
Frankfurt/M.
2007
180 S., 16,90 €
In
den letzten Wochen war plötzlich das unbequeme Thema „Altenpflege“ in allen
renommierten TV-Polit-Talks angesagt. Der Auslöser dafür könnte das Ende
Februar erschienene Aufklärungs- und Anklagebuch „Wohin mit Vater?“ sein,
in dem der Autor (ein anonymer investigativer Journalist) seine persönlichen
Erfahrungen mit recherchierten Fakten verbindet. Er lässt uns teilhaben an
seinen Erlebnissen und inneren Konflikten bei der vergeblichen Suche nach einer
akzeptablen und bezahlbaren Betreuung für seinen pflegebedürftigen Vater. Schuldbewusst
erkennt er, dass er die Problematik bis zum Ernstfall-Tag X ebenso ignoriert und
verdrängt hat, wie wir es wohl alle
tun.
Ein sofort verfügbarer Pflegeplatz wird „dem Sohn“ nur in privaten
Pflegeheimen angeboten, in denen er in Mehrbettzimmern dahin siechende
Elendsgestalten antrifft: in nassen, stinkenden Windelpaketen wund gelegen;
unzureichend ernährt und ausgetrocknet; mit Psychopharmaka ruhig gestellt und
ohne menschliche Zuwendung. Ein Szenarium des Grauens, das er seinem Vater nicht
zumuten will. Trotz der inneren Distanz, die er und seine Schwester zu dem Vater
haben, trotz ihrer Berufstätigkeit und trotz ihrer Pflichten gegenüber ihren
eigenen Familien erwägen sie, den Vater bei sich aufzunehmen.
Sie quälen sich mit Gewissensbissen und Schuldgefühlen, als sie sich
eingestehen, dass sie sich und ihren Familien die psychisch, physisch und sozial
überfordernde Pflege nicht aufbürgen können. Schließlich finden sie eine Lösung,
die wie eine Erlösung aussieht: Der Vater kann in seiner vertrauten häuslichen
Umgebung bleiben, nachdem für seine Betreuung die aus Polen importierte
Pflegerin Teresa gefunden worden ist. Die Ganztagsbetreuung durch sie kostet nur
1100 € im Monat, während die Inanspruchnahme eines professionellen
24-Stunden-Pflege-Dienstes in Deutschland 10.000 € kosten würde. Staunend
verfolgen die Geschwister, wie es dieser Frau gelingt, den Vater zu aktivieren
und ihm damit neue Lebensfreude zu schenken. Doch ein Happyend ist es trotzdem
nicht. Denn nach deutschem Recht ist dieser Import illegal und wird mit
erheblichen Geldbußen bestraft – sollte er entdeckt werden. Also bleibt
„der Sohn“ anonym und plagt sich mit seiner Angst vor dem „out“ und mit
neuen Schuldgefühlen wegen seines Rechtsbruchs (den schätzungsweise zurzeit
bereits 100.000 Familien in Deutschland begehen).
Seine subjektive Betroffenheit veranlasste den Anonymus-Autor dazu, sich
objektive Einsichten in den deutschen Pflegebetrieb zu verschaffen und einen
Ratgeber-Anhang anzufügen. Immerhin werden aufgrund der ständig steigenden
Lebenserwartung im Jahre 2010 ca. 2,4 Millionen Menschen darauf angewiesen sein.
Aufgrund von Interviews mit Fachleuten und pflegenden Angehörigen sowie durch
die Lektüre anderer Erfahrungsberichte erfährt er Fakten, die er zur
Untermauerung seiner eigenen Erlebnisse dem Leser in verstörender Offenheit präsentiert.
Trotz der überwiegend strengen Kontrollen der MDK gibt es wie bei allen Behörden
„schwarze Schafe“. Sie kontrollieren
die Einhaltung ihres Pflegeschlüssels gar nicht oder tauchen erst nach
vorheriger Anmeldung auf. So entstehen Spielräume, in denen verantwortungslose
Privatunternehmer (nach dem Motto „abgezockt und tot gepflegt“)
Personalkosten einsparen. Ihre viel zu knappen Pflegekräfte sind hoffnungslos
überlastet, gestresst und frustriert, was sich in einem ungeduldig-aggressiven
Umgangston gegenüber den Pflegebedürftigen und in hoher Personalfluktuation äußert.
Natürlich gibt es gut geführte Privatheime, wozu vor allem die Senioren-Stifte
gehören. Doch die sind teuer und liegen häufig weit weg vom Heimatort.
Ein Buch wie „Wohin mit Vater?“ könnte dazu dienen, die inzwischen längst
überfällige Reform des bundesdeutschen Pflegesystems in Angriff zu nehmen.
Pflegeheime sollten zukünftig mit der gleichen Kompromisslosigkeit kontrolliert
und die Verantwortlichen bei Missständen abgestraft werden, wie unsere
Regierung das in Sachen Nichtraucher-Schutz zu tun beabsichtigt. Erika Pillardy,
18. März 2007
www.fragmentum.de