Roberto Bolaño
"Stern in der Ferne"
Aus dem Spanischen von Christian Hansen
Diana Tb München 2002
174 S., 8,00 Euro


Bereits mit seinem in der Tradition Jorge Louis Borges geschriebenen Roman "Die Naziliteratur in Amerika" stellte der chilenische Autor Roberto Bolaño seine Begabung, phantasiereich Geschichten zu erzählen, unter Beweis. In "Stern in der Ferne" nun greift er eine biographische Skizze aus dem Schlusskapitel der "Naziliteratur" auf und erzählt die Geschichte des Carlos Wieder, einem dandyhaften Möchtegern-Dichter, der unter Pinochet zum Staatsdichter aufsteigt und zum skrupellosen Mörder wird. 
Der Erzähler des Romans, ein junger Schriftsteller, glaubt in Wieder einen Mann zu erkennen, der vor dem Putsch regelmäßig den studentischen Literaturzirkel besuchte. Sein Name war Alberto Ruiz-Tagle, ein gepflegter, mysteriös erscheinender, Mann, der 
von den Studentinnen sehr bald angehimmelt wurde. Im Jahr des blutigen Militärputsches in Chile glaubt der Erzähler, Ruiz-Tagle wiederentdeckt zu haben. Dieser ist mittlerweile zum gefeierten Dichter mit Namen Carlos Wieder aufgestiegen, der mit einem Flugzeug seine Verse in den Himmel schreibt. Doch sind beide Personen wirklich identisch?
Bolaño zieht den Leser unweigerlich mit seiner detektivischen Geschichte in den Bann. Neben erzählerischen Miniaturen, wie die Geschichte der Schwestern Garmedia oder die des armamputierten  Poeten, der sich das Leben nehmen will, aus dem misslungenen Suizid neuen Lebensmut gewinnt und letztendlich an AIDS stirbt, folgt Bolaño den Spuren Ruiz-Tagles/Wieders mit akribischer Genauigkeit. Unfassbar ist, wie jemand, der die Schönheit über alles stellt, zum eiskalten Mörder werden konnte. Der Autor macht es dem Leser nicht leicht. Über weite Strecken werden Namen oder enzyklopädische Notizen zitiert, doch sind diese selten tatsächlich belegt, sondern entspringen der Phantasie des Autors.
Inwieweit Zitate oder Namen Anspielungen auf noch lebende Personen der chilenischen Literatenszene sind, erschließt sich nur dem Eingeweihten. Eindeutig ist jedoch die Hommage an den Schriftsteller William Carlos Williams, dessen Foto ausführlich in einem Kapitel des Romans ausführlich beschrieben wird.
"Stern in der Ferne" ist ein äußerst anspruchsvoller Roman, der sich auf äußerst intelligente Weise den großen Themen Kunst - Macht - Tod widmet. Letzten Endes bleibt die Illusion, dass ein Menschen wie Carlos Wieder wirklich existiert hat. 
©Torsten Seewitz, 30.05.2002

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