Veza Canetti
“Die Schildkröten“
Deutscher Taschenbuch Verlag 2002
288 S.; 9,50 Euro

Als Veza Canetti, die Frau des berühmten Schriftstellers Elias Canetti, ihren Roman „Die Schildkröten“ 1939 im Londoner Exil fertig stellte, fand sich umgehend ein Verlag der  das Manuskript als Buch herausgeben wollte. Doch der Kriegsausbruch verhinderte dessen Veröffentlichung.
Man könnte sich ausmalen, was geschehen wäre, hätte der Roman bereits damals seine Leser gefunden. Denn die Geschichte, die Veza Canetti auf so nachhaltig beeindruckende Weise erzählt, ist die des Schicksals Wiener Juden nach dem „Anschluß“ an das deutsche Reich. Stellvertretend für die unzähligen Deportierten lässt die Autorin ihre Protagonisten Eva und Andreas Kain zu Wort kommen. Sie wohnen in einem Wiener Nebenbezirk, ungestört und von allen geachtet. Bis 1938 die ersten Hakenkreuzfahnen auf den Balkonen des Wohnhauses gehisst werden und Uniformierte die Wohnungen nach Juden durchsuchen. Nahezu arglos verfolgt die Familie Kain die Geschehnisse; vor allem Andreas, der sich in seine Bücherwelt zurückzieht und der Realität nur ungern ins Gesicht schaut. Erst als sein Bruder Werner, der als Geologe in einem wissenschaftlichen Institut arbeitet, auf Grund seiner Religionszugehörigkeit entlassen wird, bröckelt das Bild von der heilen Welt.
Schleichend nimmt das Grauen in Form braun Uniformierter Besitz von der vertrauten Lebenswelt. Nicht genug, dass die rot-weißen Fahnen die Gegend verunzieren, nein, auch der Aufenthalt unten in der Stadt wird zur Lebensgefahr, wenn Angehörige der SA Lokale und Geschäfte nach Juden durchsuchen. Schildkröten gleich verkriecht sich die Familie Kain unter ihrem Panzer, erträgt geduldvoll die Inbesitznahme ihres Eigentums und hofft inständig auf ein baldiges Ausreisevisum, welches ihnen die Flucht in das sichere englische Exil ermöglicht.
In seinem kenntnisreichen Nachwort, verweist Fritz Arnold auf den Zusammenhang der Biographie Veza und Elias Canettis mit dem im Roman beschriebenen Ereignissen, die unmittelbar nach der „Kristallnacht“ 1938 aus Wien über Paris nach London fliehen konnten. Dass die Vermutung naheliegend ist, Veza Canetti erzähle mit diesem Roman ihr eigenes Schicksal, bestätigt die spätere getroffene Aussage ihres Ehemannes zu ihrem Werk, dass es nie ihre Sache gewesen sei, zu erfinden.
Diese Erkenntnis mag zum einen aus literaturwissenschaftlicher Sicht interessant sein, zum anderen wäre sie 1939 als Beweis für die Authenzität des Erzählten wichtig gewesen. Zwar ist diese Annahme spekulativ, doch wären mit diesem Roman die englischen Leser auf die ungeheuerlichen Vorgänge in Deutschland und Österreich aufmerksam gemacht worden. So müssen wir uns damit begnügen, diesen ungemein dicht erzählten Roman sechzig Jahre später, mit dem Wissen um den verhängnisvollen Fortgang der Geschichte, lesen zu dürfen.
Dennoch mit Gewinn, wie man nach der Lektüre uneingeschränkt feststellen muß, denn Veza Canettis Sprache trifft den richtigen Ton, der die Schrecken der damaligen Zeit lebendig werden lässt.
Nicht nur die beschriebenen Ereignissen der öffentlichen Demütigung jüdischer Menschen, sondern die Einblicke in die Gedankenwelt ihrer Protagonisten, die von Angst und Schrecken geprägt ist, lassen „Die Schildkröten“ zu einer nachhaltigen und eindrucksvollen Leseerfahrung werden. Torsten Seewitz, 11.12.2003

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