Jon Fosse
"Morgen und Abend"

Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Alexander Fest Verlag Berlin 2001
118 Seiten, € 14,90

Etwas ist anders an diesem Morgen, als der alte Fischer Johannes erwacht. Obgleich ihm das Leben seit dem Tod seiner Frau Erna trüb erscheint, er die Wärme vermisst, fühlt er sich plötzlich so leicht und schwerelos. Es ist seltsam, weder beim Aufstehen noch beim Anziehen verspürt er das vertraute Ziehen und Reißen in den Gelenken. Er fühlt sich wie der „reinste Jungspund“.
Wie jeden Morgen denkt er, dass er, wenn das Wetter es zuließe, gemeinsam mit seinem Freund Peter zum Fischen fahren könnte. Doch dieser ist seit langem Tod. Trotzdem macht er sich auf dem Weg zum Hafen und wider Erwarten trifft er dort auf Peter. Gemeinsam  machen sie sich auf dem Weg, obwohl die See aufgewühlt ist, um Krebsreusen einzuholen.
Anfangs wundert sich Johannes über das unerwartete Treffen, doch die anfängliche Verwunderung weicht der Freude über das Wiedersehen.
Jon Fosse erzählt mit einer fast magischen Sprachemelodie die bewegende Lebensgeschichte des Fischers Johannes, der nach einem erfüllten Leben in einem norwegischen Fischerdorf stirbt. Er nimmt den Leser mit auf eine wundersame Reise in eine Welt zwischen Leben und Tod; in eine Welt, in der die Seele den Körper verlassen hat und völlig schwerelos zwischen den Zeiten wandelt.
Es berührt, wenn sich Johannes beispielsweise wundert, dass er all die geliebten, aber bereits toten Menschen wiedertrifft, doch die Lebenden ihn nicht mehr erkennen. Erst langsam setzt das Bewusstwerden über den eigenen Tod ein.
Mit „Morgen und Abend“ hat Jon Fosse eine Erzählung geschrieben, die sich in einer schlichten und dennoch berührenden Sprache einem gesellschaftlichen Tabuthema, dem des Todes, nähert. Fosse begreift den Tod nicht als Unglück, sondern als zum Leben  gehörend und so lässt er Johannes völlig ruhig und mit einer gewissen Freude, seine geliebte Frau wiederzusehen, von Peter an den Ort der Toten bringen. ©Torsten Seewitz, 27.02.2002

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