Sylvie
Germain
"Sara in der Nacht"
Aus dem Französischen von Christel Gersch
Aufbau Verlag Berlin 2001
223 Seiten, 18,50 €
So muss sie aussehen, die Apokalypse. Düstere, schwere Wolken, die die Welt mit
einem Vorhang aus Tausenden von Regentropfen versehen. Blitze erhellen das
Dunkel, Donner grollt, ein Sturm peitscht unnachgiebig über die Landschaft.
Zwei Männer, mit ihrem Auto auf einer einsamen Landstraße fahrend, erblicken
in der Ferne einen kleinen, leuchtendgelben Punkt, gar so grell, als wäre die
Sonne vom Himmel herabgestiegen. Als sie näher kommen, erkennen sie einen
kleinen Jungen, der mit einer gelben Regenjacke bekleidet, auf einem Dreirad
energisch gegen den Sturm anfährt. Er sei auf der Suche nach dem Teufel, wohin
ihn sein Vater geschickt habe, antwortete er später von einem der Männer
befragt. Dieser hatte kurze Zeit zuvor, seine auf dem Rücken ihres Pferdes tot
zurückgekehrte Frau erblicken müssen. Auf mysteriöse Weise war sie enthauptet
worden, doch war ihr Kopf trotz intensiver Suche unauffindbar.
Zugegeben, eine schaurige Szenerie, die surrealer nicht sein könnte, doch
sind die Bücher der französischen Autorin Sylvie Germain bekannt für ihre
düster melancholische Stimmung, verwoben mit Elementen aus Mystik und Religion.
So adaptiert sie in ihrem aktuellen Werk "Sara in der Nacht" das
"Buch Tobit" aus dem Alten Testament und verlegt dessen Handlung in
die Gegenwart, genauer an die französische Atlantikküste. Germain erzählt im
folgenden die unheilvolle Geschichte einer über Jahrzehnte von Leid verfolgten
Familie, die nur schwer ihren Platz im Leben finden konnte. Im ersten Teil des
Buches erzählt die Großmutter aus ihrem an Schicksal reichen Leben, vom
Auswanderungsversuch der Familie nach Amerika, dem 1. Weltkrieg und dem
Holocaust. Immer wieder riss der Tod einen geliebten Menschen mit sich.
Erst dem jüngsten Nachkommen Tobias, der als kleiner Junge den Teufel suchte
und nicht fand, gelingt es als junger Mann mit Hilfe des engelgleichen
Begleiters Rafael sein Glück durch die Liebe zu einer Frau zurückzugewinnen.
Es ist diese Liebe zu Sara, der Verstoßenen, deren Liebhaber auf mysteriöse
Weise starben, nachdem sie von ihr geküsst wurden, die alle Wunden der
Vergangenheit heilt.
Diese Geschichte von Leid und Vergebung, dem hoffnungsvollen Glauben an das Gute
erzählt Sylvie Germain in einer Sprache von seltsamer Magie, die den Leser
gefangen nimmt und in eine ferne Traumwelt entführt. Und es ist gerade diese
Abgewandtheit zur Realität, die der Prosa etwas Märchenhaftes, Verzauberndes,
ja etwas Einmaliges gibt. © Torsten Seewitz, 28.06.2001