Ulla
Hahn
"Liebesarten"
Deutsche Verlagsanstalt München 2006
237 S.; 17,90 Euro
Wer – im Gegensatz zu mir – etwas von
moderner Lyrik versteht, dürfte Ulla Hahn kennen, deren lyrische Werke seit
1987 vielfach gelobt und preisgekrönt wurden. Nach ihrem umstrittenen
autobiographischen Roman („Das verborgene Wort“, 2001) sah sie eine
Herausforderung darin, in ihren künftigen Romanen und Erzählungen zwischen den
Genres „Lyrik“ und „Prosa“ hin- und herzuwechseln und dabei jeweils
„in ganz andere Personen zu schlüpfen“. In den 13 Erzählungen ihres
neusten Buches „Liebesarten“ versucht die promovierte Germanistin und
Universitäts-Dozentin, poetische Natur- und Landschafts-Beschreibungen mit
schicksalhaften Erlebnissen von Menschen zu verbinden. Vor dem Hintergrund
der in anspruchsvoller Sprache entfalteten Naturromantik wirken die handelnden
Figuren jedoch hin und wieder seltsam deplaziert und verstörend. Die
„Botschaft“ zwischen den Zeilen lautet: die Welt könnte so schön
sein, wenn da nicht Menschen wären, die sich und einander mit
„Liebes-Unarten“ quälten - mit fehlgeleiteter oder betrogener Liebe, mit
Liebesschmerz und Eifersucht, Reue, Bitterkeit und Hass.
Wie ein roter Faden zieht sich durch viele der Erzählungen die Figur einer
40-50jährigen (geschiedenen) Akademikerin, die - bei ihrer
vergeblichen Sehnsucht nach einem (neuen) verlässlichen Partner – sich selbst
und andere in ironisch-sarkastischer Art und Weise betrachtet. Ulla Hahn, die
mit der Beschreibung von Gefühlen bewusst zurückhaltend umzugehen beabsichtigt
(„weil die im Leser selbst erzeugt werden sollen“), übersieht leider
gelegentlich, dass Ironie, Überheblichkeit und Verachtung verhindern, dass der
Leser sich ernsthaft auf die Probleme der dargestellten Figuren einlassen kann.
Doch es gibt bemerkenswerte Ausnahmen unter den Erzählungen, und um
deretwillen lohnt es sich, das Buch zu lesen und anderen zu schenken. Zwei von
ihnen möchte ich kurz vorstellen. Die schönste beginnt so: „Wer aber
an gebrochenem Herzen stirbt, der muss einmal im Jahr zurück auf die Erde und
seinem Tod auf den Grund gehen. Einen Tag und eine Nacht dürfen wir in
Tiergestalt nahe dem geliebten Menschen verweilen… Ich flog als Motte zu
ihm.“ Welch ein phantastisch märchenhafter Einfall! Der Leser fühlt
sich verzaubert und zu einem Perspektivwechsel gezwungen: Vom Jäger dieses lästigen
Ungeziefers wird er selbst zur ausgelieferten Motte, die sich als stumme
Beobachterin ihrem „Herzensbrecher“ von einst immer wieder stellen muss.
„Denn wir sind erst erlöst, wenn wir aufhören, unser Unglück zu lieben“.
Die Erzählung „Eine einfache Geschichte“ fällt stilistisch und
aufgrund ihrer aktuellen politischen Thematik aus dem Rahmen des Buches. Es geht
um den „Spuk in Springerstiefeln“ und die (un-) mögliche
Realisierung der Forderung „Reden statt Ausgrenzen“. An die Stelle
romantischer Naturerlebnisse tritt hier die anschauliche Beschreibung eines
verwahrlosten Stadtteils, dessen Bewohner sich ängstlich und hilflos gegen die
eskalierende Gewalt auf der Straße abschotten. Nur die Protagonistin Lisa
stellt sich den Tätern entgegen und wird selbst zum Opfer. Ulla Hahn
unterbricht die Handlung von Zeit zu Zeit und wendet sich direkt an den Leser.
Sie bezieht ihn in ihre eigene Ratlosigkeit ein und in das Nachdenken darüber,
ob und wie es Lisa gelingen kann, die sozial und geistig minderbemittelten
Gewalttäter – durch vernünftiges Miteinander-Reden - zu stoppen. Dazu bietet
sie alternative Handlungsverläufe an und wählt nach mehreren Versuchen
schließlich ein Ende, das mit „Barmherzigkeit“ überschrieben sein könnte:
Lisa sitzt am Krankenhausbett eines der Täter, der von seinen Kumpeln
zusammengeschlagen worden ist. „Vorsichtig schob Lisa ihre Hand unter die des
Jungen… Sie legte einen Finger auf die Lippen. `Nicht reden` formte ihr Mund
lautlos. Martin ließ die Augen wieder zufallen. Seine Hand in der Rechten Lisas
zuckte ein wenig. Lisa beugte sich noch weiter vor und wölbte ihre Linke über
die beiden Hände als besiegele sie einen Pakt.“
Auch Barmherzigkeit und Erbarmen sind „Liebesarten“ Erika Pillardy, 15. Okt.
2006