Judith Hermann
"Nichts als Gespenster"
S. Fischer Verlag Frankfurt/M. 2003
320 S.; 19,90 Euro


Es ist ein ruhiger, zurückhaltender Ton, der die neuen Erzählungen Judith Hermanns durchzieht, fast so, als wollte sie dem lautstarken Trubel, der das Erscheinen ihres neuen Buches "Nichts als Gespenster" begleiten würde, etwas entgegensetzen. 
Selten ist eine Autorin so mit Vorschußlorbeeren überhäuft worden wie Judith Hermann, die 1998 mit dem kleinen Band "Sommerhaus, später" eine neue Ära der deutschsprachigen Literatur einzuläuten schien. Glaubt man den Ankündigungen in den diversen Medien, so wurde kein Buch mehr erwartet als ihr neuer Erzählungsband. 
Dass so hohe Erwartungen auch kontraproduktiv wirken können belegt der Umstand, dass wir auf das neue Buch über vier Jahre warten mussten. Nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste, denn Qualität braucht seine Zeit. Von einer Schreibblockade war die Rede, selten von Verständnis, dass die junge Autorin vom Erfolg ihres Debüts derart überrascht wurde und es somit einiger Zeit bedurfte, sich von der hohen Erwartungshaltung der Kritiker nicht in die Enge treiben zu lassen. 
In diesen Tagen nun kann der Leser, so er denn nicht dem Hermann-Fieber verfallen, vorurteilsfrei ihre neuen sieben Erzählungen genießen. Im Gegensatz zum Erstling hat sich der Umfang der Geschichten verdoppelt, jedoch weniger deshalb, um mehr an Handlung unterzubringen, sondern vielmehr um der reflexiven Komponente des Schreibens mehr Raum zu geben. Zum Vorteil, wie ich finde, obgleich manche Bilder arg strapaziert werden. So wird permanent und in sämtlichen Situationen geraucht, auch fällt auf, dass  Staub viele ihrer Schauplätze mit einer grauen Patina überzogen hat.
Beim Lesen der Erzählungen hat man das Gefühl, alte Bekannte aus  "Sommerhaus, später" wiederzutreffen. Nur sind diese älter geworden und besinnen sich ihrer Selbst auf einer höheren Bewusstseinsebene. Hermanns Figuren haben die Stätten deutscher Provinzialität verlassen und pilgern nun auf Abenteuerpfaden in den Weiten Europas und Amerikas. Dieser Umstand bereichert die Erzählungen ungemein, denn neben Hermanns nuancierten Beobachtungen der zwischenmenschlichen Kommunikation und der Alltagsdinge, erfährt der Leser vieles über soziokulturelle Besonderheiten einzelner Länder. 
Die Stimmung der Erzählung entspricht am ehesten einem entrückten Sinnieren über die Kunst des Lebens und der Liebe. Wie soll es weitergehen, wenn man das dreißigste Lebensjahr erreicht hat und einen das Gefühl nicht loslässt, nicht so gelebt zu haben, wie man es sich erträumt hatte? 
Ganz gleich, ob es sich um Ellen und Felix handelt, die in der titelgebenden Erzählung "Nichts als Gespenster" in den USA versuchen, ihrer Partnerschaft wieder einen Sinn zu geben oder um die junge Ich-Erzählerin in "Aqua Alta", die in Venedig zu ihrem Geburtstag auf ihre Eltern trifft und sich ihres Verhältnisses zu ihnen erstmalig bewusst wird, immer geht es um die kleinen Dinge des Alltags, die so schwierig zu formulieren sind. Manch einer mag das Erzählte banal finden, lässt man sich jedoch auf den "Hermann-Ton" ein, entwickeln die Erzählungen einen ungemeinen Sog, steuern scheinbar auf einen finalen Höhepunkt zu. Doch hier täuscht Hermann den Leser gekonnt, denn nicht selten enden die Geschichten genauso unspektakulär wie so begonnen haben. 
Vielleicht ist es genau das, was so an Judith Hermanns Erzählton fasziniert, dieses  vollkommen unaufgeregte Nachdenken ihrer Protagonisten über den Sinn ihres Lebens. 
Möglich, dass die eine oder andere Erzählkonstruktion zu durchschaubar wirkt und sich auch zu wiederholen scheint, doch bleibt nach dem Lesen ein gewisses melancholisches Gefühl zurück, ohne genau definieren zu können, wie dieses sich begründet. Zu recht dürfen die Bücher Judith Hermanns als etwas Einmaliges, Unverwechselbares bezeichnet werden, vor allem dann, wenn man sie mit den Werken ihrer gleichaltrigen Schriftstellerkollegen vergleicht, wenngleich ich das frühe Überhäufen der Autorin mit bedeutenden Literaturpreisen, wie dem Kleist-Preis für nicht angebracht hielt. Doch wie soll man sich als junger Autor einer derart vereinnahmenden Medienmaschinerie entziehen, die den Erfolgsuchenden nach oben bringt, jedoch ebenso schnell wieder fallen lässt. Der Qualität ihrer Erzählungen hat der Trubel der vergangenen Jahre nicht viel anhaben können. Bleibt zu hoffen, dass dies auch für die nächsten Bücher gelten wird. © Torsten Seewitz, 10.02.2003


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