Thomas Hürlimann
"Fräulein Stark"

Ammann Verlag Zürich
192 Seiten, 19,50 Euro


Bereits vor seinem Erscheinen schlug Hürlimanns aktuelles Buch "Fräulein Stark" in der Schweizer Presse hohe Wellen. Nicht so sehr wegen der erzählten Geschichte, die klasssicher nicht sein könnte, sondern wegen der vermeintlichen Ähnlichkeit beschriebener mit noch lebenden Personen. So hielt es der Onkel des Autors, Stiftbibliothekar und Professor Johannes Duft mit einer zehnseitigen Polemik unter dem Titel "Bemerkungen und Berichtigungen zum Buch 'Fräulein Stark' von Thomas Hürlimann" für notwendig, das Ansehen seiner Person und das seiner Haushälterin zu bewahren. Preiswerter ist Öffentlichkeitsarbeit für ein neues Buch nicht zu haben!
Aber was erzählt Hürlimann nun so Aufregendes, dass die Eitelkeit seines Onkel so verletzt wurde? 
Wie in den Jahren zuvor, so auch in diesem letzten Sommer seiner Kindheit verbringt der zwölfjährige Neffe des Stiftsbibliothekars seine Ferien auf der "Bücherarche", einer an Schätzen reichen mittelalterlichen Klosterbibliothek. Doch erwartet den Jungen keine mußevolle Zeit zum Schmökern in alten Büchern, sondern die Aufgabe, an die zahlreichen Besucher der Bibliothek Filzpantoffeln zu verteilen, damit der kostbare Fußboden nicht beschädigt wird. Eine Aufgabe, die der Onkel als Amt bezeichnet und eigentlich langweiliger nicht sein könnte. Bis sich eines Tages der Blick des Jungen nicht mehr nur auf die Schuhe der Frauen richtet, sondern vorsichtig spähend verborgenere Regionen erkundet. Das Pantoffelausteilen gerät zur Obsession, doch nicht unbemerkt, wie der Junge glaubt, sondern sehr wohl von der strengen Haushälterin Fräulein Stark registriert, die dieses sündige Verhalten auf keinen Fall duldet und dem Onkel Bericht erstattet. 
Obgleich vorhersehbar, lässt Hürlimann den Jungen, übrigens sein alter ego, und Fräulein Stark nicht zu Rivalen werden. Eben dieses streng gläubige Fräulein Stark ist es, die später Verständnis für die aufkeimenden Sehnsüchte und Phantasien des jungen Mannes aufbringt. So ganz nebenbei stellt dieser, unterstützt von den Hilfsbibliothekaren, Nachforschungen in seiner Familiengeschichte an, einer Geschichte, die der Onkel bislang zu verbergen versuchte. Und in dieser Entdeckung des Familiengeheimnisses liegt das eigentlich Brisante der Novelle. Denn obgleich getauft und gläubiger Katholik, verschweigt der Onkel seine jüdische Herkunft.
Zwar versteckt Hürlimann das Jüdische der Familie Katz hinter Synonymen und Anspielungen, doch ist es  wahrscheinlich gerade dieses Detail der familiären Vergangenheit, die Professor Johannes Duft zu Polemik und Richtigstellung der Fakten bewegten. 
Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas, gelingt es Hürlimann vortrefflich, dennoch äußerst unterhaltend die Geschichte einer Initiation, dem Erwachen der Gefühle und der Lust, zu erzählen.  Dass dies gerade in den Gemäuern eines ehrwürdigen Klosters geschieht, birgt eine besondere Ironie. 
Mit sensiblem Gespür für charakterliche Eigenarten seiner Protagonisten, zeichnet Hürlimann ein zumeist liebevolles und leicht wehmütiges Portrait der letzten Tage einer unbeschwerten Kindheit. Am Ende des Sommers verlässt der junge Mann den Onkels als zukünftiger Zögling des Klostergymnasiums Einsiedeln, reich an Erfahrung und in Erinnerung an den "Duft der Frauen". ©Torsten Seewitz, 14.08.2001

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