Kristian Ditlev Jensen
"Ich werde es sagen.
Geschichte einer mißbrauchten Kindheit"
Aus dem Dänischen von Walburg Wohlleben
Klett-Cotta Stuttgart 2004
309 S.; 19,50 Euro

Es vergeht kaum ein Tag, an dem in den Medien nicht von sexuellen Übergriffen auf Kinder berichteten wird. Zumeist stehen jedoch die Täter im Vordergrund der Berichterstattung. An ihnen wird vorgeführt, in welchem Stadium des moralischen Verfalls sich die Gesellschaft befindet. Nur selten wird die tragische Geschichte der Opfer erzählt und wenn doch, so bleiben die Fragen an der Oberfläche. Vorgeführt wird, was zu Tränen rührt.
Diesem bedenklichen Trend steuert nun der Stuttgarter Klett-Cotta Verlag mit der Veröffentlichung des Buches "Ich werde es sagen" des Dänen Kristian Ditlev Jensen entgegen. Jensen erzählt darin die autobiographische Geschichte seines Mißbrauchs und der damit verbundenen Traumata, deren Folgen er bis in sein Erwachsenenleben spürt. 
"Bisher kam in meinem Leben das Paradies vor der Hölle", so beginnt Jensen eines der ersten Kapitel, in dem er von einer Zeit erzählt, die er aus heutiger Sicht zu seiner glücklichsten zählt, die Zeit vor dem Mißbrauch. 
Er und seine Eltern lebten in einfachen Verhältnissen in einem Sozialbauwohnung am Stadtrand von Holbaek. Zwar war der kleine Kristian oft sich selbst überlassen, weil seine Eltern arbeiteten, doch gemessen an dem, was er an physischen und psychischen Grausamkeiten in den folgenden Jahren erleben mußte, waren all die Entbehrungen der Kindheit in der Rückschau vollkommen unwichtig.
Das Unheil nahm seinen Anfang mit einer Urlaubreise in die Provence. Kristian war damals neun Jahre alt, als die Familie seines Freundes Nikolaj ihn fragte, ob er seine Ferien nicht mit ihnen in Südfrankreich verbringen möchte. Da Kristians Eltern ihrem Sohn diese Reise nie hätten ermöglichen können, stimmten sie zu. Wohl auch deshalb, weil sie ihren Jungen in guten Händen glaubten.  
Nikolajs Familie wurde von Gustav, einem Graphiker aus Kopenhagen, begleitet. Anfänglich war Kristian von diesem Mann abgestoßen und begeistert zugleich. War er doch so ganz anders, als sein Vater. Hinzu kam, daß Kristian seinen ersten Urlaub als eine Art "Sinnenexplosion" empfand, so gewaltig hob sich das Erlebte vom grauen Alltag seines Zuhauses ab. 
In diesen vierzehn Tagen trat Gustav als Freund und Beschützer Kristians auf und der genoß die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. Wieder Zuhause, empfand er die vertraute Welt als Bruch zu der neuen Welt, die sich ihm in den vergangenen Tagen offenbart hatte. Trotz seiner Begeisterung blieben seine Eltern unbeeindruckt von all dem Phantastischen, daß ihr Sohn erlebt hatte.
Als Kristian von seinem Vater im darauffolgenden Herbst das erste Mal zu Gustav nach Kopenhagen gebracht wurde, um dort ein Wochenende zu verleben, waren die Freude über das Wiedersehen und die Erwartungen riesengroß. Gustav lebte in einem ziemlichen Chaos, doch störte dies Kristian wenig. Sogar seine Zähne mußte er nicht putzen, als sie am Abend zu Bett gingen. Nur ein wenig irritierte es ihn, als sein erwachsener Freund darauf bestand, daß sie nackt schlafen würden. 
Nach dieser Nacht sollte nichts mehr so sein wie es vorher war, denn Kristian mußte zusehen, wie Gustav masturbierend neben ihm lag und so tat, als wäre es die normalste Sache auf der Welt. Fortan wird Kristian in seinen Gefühlen hin- und hergerissen. Er weiß nicht mehr, was er denken soll. Tief im Inneren sträubt sich alles gegen das, was Gustav nun von ihm will. Obwohl die Übergriffe immer häufiger werden, kann sich Kristian nicht wehren. Zu groß ist die Verwirrung und mit wem sollte er darüber sprechen. 
Kristian Ditlev Jensen schildert im Folgenden ein drei Jahre währendes Martyrium, dessen Folgen an seiner Seele und Psyche noch heute nachwirken. Dieses Buch, so bemerkt es der Autor in seinem Vorwort, soll anderen helfen, die "ebenso pädophilem Mißbrauch  ausgesetzt waren". Jensen bewegt sich künstlerisch auf einem hohen Niveau, immer versucht, die authentischen Gefühle eines Kindes wiederzugeben. Stets bleibt er sachlich, obwohl das Erlebte andere Reaktionen provoziert. So betrachtet ist
"Ich werde es sagen" kein üblicher Erfahrungsbericht, der mit den Tätern abrechnet, sondern eine mit literarischen Mitteln versuchte Erkundung einer verletzten kindlichen Seele.
Bleibt die Hoffnung, daß dieses Buch viele Leser erreicht, um das Tabuthema "Sexueller Mißbrauch von Kindern" weiter in die Öffentlichkeit zur rücken, um es den Tätern durch diese Form von Aufklärung immer schwerer zu machen, Opfer zu finden. Torsten Seewitz, 16.05.2004

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