Daniel
Kehlmann
"Der fernste Ort"
Suhrkamp Frankfurt 2001
148 Seiten, 17,80 €
Wie verlockend ist
der Gedanke, einfach zu verschwinden, sich dem Alltag zu
entziehen, wenn die Probleme Überhand nehmen? Untertauchen,
Verschwinden, um mit neuer Identität ein anderes, besseres
Leben zu beginnen.
In seinem jüngsten Roman unternimmt Daniel Kehlmann, einer
der vielversprechendsten jungen deutschen Autoren, dieses Gedankenexperiment. Er führt den Leser in eine
Zwischenwelt, in der die Grenzen zwischen Wirklichkeit und
Traum zunehmend verschwimmen.
Vielleicht ist es die Unzufriedenheit mit seinem Beruf als
Angestellter einer Versicherungsfirma, oder die
Abgeschiedenheit des Seminarhotels, die Julian den Sinn seines
bisherigen Lebens hinterfragen lassen. In zwei Stunden soll er
den Seminarteilnehmern einen Vortrag über „Elektronische
Medien in der Risikokalkulation“ halten und er hat noch
keine Vorstellung darüber, was er ihnen erzählen soll.
Ein kühles Bad im nahegelegenen See versprach Ablenkung. Doch
statt der erhofften Klarheit, verfinstert die Erinnerung an
sein missglücktes, von Mittelmaß geprägtes Leben, seine
Gedanken. Wie wäre es, einen
Badeunfall vorzutäuschen? Die Flucht in ein neues Leben
schien greifbar nahe. Schon einmal, als Kind, war ihm eine
Flucht gelungen. Wieso sollte es dieses Mal schief gehen? Und
wer wird ihn schon vermissen? Seine Ehe ist gescheitert und zu
seiner Familie hat er keine Bindung mehr.
Julian schwimmt auf den See hinaus, weiter und weiter, bis er
das Ufer nicht mehr sehen kann. Voller Panik versucht er
zurückzukehren ...
Doch der Einstieg in das neue Leben vollzog sich schwieriger
als Julian anfangs glaubte. Immer wieder wird er von der
Erinnerung eingeholt. Es sind dies quälende Gedanken an das
erniedrigende Gefühl, sich immer wieder mit dem hochbegabten
Bruder messen lassen zu müssen, an das Begreifen der eigenen
Mittelmäßigkeit, an die Trennung der Eltern und die eigenen
Beziehungsunfähigkeit. Wo ist der rettende Zug, der ihn in
eine neue Zukunft bringt?
Daniel Kehlmann spielt mit der Illusion einer linearen
Handlung, die nur von der Erinnerung an das Vergangene
durchbrochen wird. Für Julian gerät die Welt der Erinnerung
immer mehr zur Zeitfalle, Realität und Traumwelten
verschwimmen ineinander, nehmen geradezu kafkaeske Züge an.
Es ist dieses Ungewisse, welches der Geschichte eine latente
Spannung verleiht, unterstrichen durch die klare Sprache
Kehlmanns. Dem Leser, der gewillt ist, sich auf ein
interessantes Gedankenexperiment einzulassen, erschließt sich
mit dieser Erzählung eine spannende ungewohnte
Welt,
in der nichts dem entspricht, was es vorgibt zu sein.
© Torsten Seewitz, 19.11.2001