A.L. Kennedy
"Ein makelloser Mann"
Aus dem Englischen von Ingo Herzke
Wagenbach Berlin 2001
169 Seiten, 16,50 €
Bekanntlich sind
Bestseller von den Marketingabteilungen der Verlage nur schwer planbar.
Manchmal trifft ein Titel den Zeitgeist und manchmal ist der Autor bekannt
für seinen guten Stil. Doch immer entscheidet der Leser, welche Titel er
bevorzugt. Es gibt aber auch editorische
Glücksfälle, in denen das
auserwählte Buch zwar keinen Eingang in die Bestsellerlisten findet und
dennoch, wenn auch im kleineren Rahmen, überaus erfolgreich wird. So
geschehen im Falle der schottischen Autorin A.L. Kennedy, die vom Verlag
Klaus Wagenbach für den deutschsprachigen Buchmarkt entdeckt wurde.
Selten hat eine Schriftstellerin die Tragikomik zwischenmenschlicher
Beziehungen so präzise und dennoch poetisch beschrieben wie Kennedy in
ihrem Roman "Gleißendes Glück".
Entsprechend
hoch waren natürlich die Erwartungen in Bezug auf den im Herbst
erschienenen Band „Ein makelloser Mann", obgleich im Frühjahr das
sehr persönliche Buch "Stierkampf" (ebenfalls Wagenbach) und
ihr Debüt "Einladung zum Tanz" (Steidl) erschienen sind. Um es
vorweg zu nehmen, A.L. Kennedy präsentiert sich in der Sammlung von elf
Erzählungen als eine Meisterin der literarischen Kurzform. Werden ihre
Romane zumeist aus der Perspektive der Frau erzählt, so schlüpft sie in
ihren 11 Geschichten in beide Geschlechterrollen, und dies gelingt ihr auf
eine anrührend authentische Weise.
Bereits in der titelgebenden Erzählung liefert sie ein Bespiel ihrer
Meisterschaft, vom Einbruch des Irrationalen in den Alltag und seinen
Folgen zu erzählen. Mr. Howie, Mitarbeiter einer Sozialbehörde,
durchlebt innerhalb weniger Augenblicke, während einer kleinen
Arbeitspause, all die verdrängten und verborgenen Sehnsüchte, seine
unerfüllten Leidenschaften, die daraufhin sein gesamtes geordnetes Leben
zum Wanken bringen.
Ähnlich ergeht es den anderen Personen in den kammerspielähnlichen
Szenarien, die zwischen Liebe und Selbsthass, den Wagnissen verborgener
sexueller Leidenschaft und heimlicher Verführung schwanken.
Selbst die Beschreibung des Aktes größter Intimität gerät bei A.L.
Kennedy nie voyeuristisch, sondern eher mitfühlend und äußerst
feinsinnig. Vielen Lesern mag diese Offenheit als unzulässige
Grenzüberschreitung erscheinen, gleich einem Tabubruch. Doch beherrscht
A.L. Kennedy die Kunst des Erzählens so souverän und stilsicher, dass
sie ihre Helden nie bloßstellt, sondern mit einem schützenden Schleier
aus Worten umhüllt. Alles Erzählte wirkt wahrhaftig und zugleich wie
Wunschträume oder Illusionen. Träume voller Sehnsucht, die so manche
unserer Nächte unruhig werden lassen. © Torsten Seewitz, 3.11.2001