Colum McCann
„Der Tänzer“
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren
Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg 2003
474 S.; 22,90 Euro


Biographien über das Leben Rudolf Nurejew gibt es wohl einige, doch noch kein Autor hat sich daran gewagt, einen Roman über den 1993 in Paris gestorbenen charismatischen und exzentrischen Balletttänzer zu schreiben. Jetzt liegt, vom Rowohlt-Verlag herausgegeben, die deutsche Übersetzung des vom irisch-amerikanischen Schriftsteller Colum McCann verfassten Romans „Der Tänzer“ vor.
In einer kurzen Annotation zu Beginn seines Buches weist McCann daraufhin, dass Personen, mit Ausnahme jener des öffentlichen Lebens, und die Handlung des Romans frei erfunden sind. Hier mag sich die Frage stellen, weshalb man die Biographie einer realen Person derart verfremden muß. um von ihr zu erzählen. Doch alle Zweifler seien beruhigt, denn mit McCann hat sich ein Autor dem Leben Nurejews zugewandt, der zu Recht als einer der vielversprechendsten und begabtesten Schriftsteller Amerikas gilt.
So beginnt sein Roman auch recht außergewöhnlich, den McCann lässt in apokalyptischen Bildern die Gräuel des 2. Weltkrieges in Russland auferstehen. Erst allmählich nähert er sich dem kleinen Rudolf, genannt Rudik, der als Kind beobachtet, wie die Verwundeten der Schlachten aufopferungsvoll von Frauen aus seiner Stadt medizinisch versorgt werden. Bereits damals, in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts, war seine Liebe zum Tanz entflammt. Gegen den Willen seines Vaters, der als Kriegsheimkehrer andere Erwartungen an die berufliche Zukunft seines Sohnes hegte, nahm Rudik Unterricht bei einer Ballettlehrerin, die aus Leningrad stammend, mit ihrem Mann nach Ufa verbannt worden war.
Anfangs aus auktorialer Sicht, wechselt McCann später die Erzählperspektive und lässt einzelne Personen zu Wort kommen, die das Leben Nurejews phasenweise begleitet haben. So entsteht ein vielschichtiges Bild einer der schillerndsten Persönlichkeiten des europäischen Balletts. Aus diesen diversen individuellen Blickwinkeln setzt sich einem Mosaik gleich das Portrait eines Menschen zusammen, der sein Leben kompromisslos seiner Profession widmete.
Während einer Tournee des Kirow-Balletts in den Westen 1961 beschloss Nurejew dort zu bleiben und politisches Asyl in Frankreich zu beantragten. War er bis dato bereits in der Sowjetunion ein gefeierter Künstler, so begann sein Stern von nun an unaufhörlich zu steigen. Wohl auch dank seiner Ballettpartnerin am Londoner Royal Ballett, Margot Fonteyn. Sie gaben das Traumpaar des Balletts schlechthin und konnten weltweit Erfolge feiern, die jedoch im Laufe der Zeit Spuren in Seele und Körper Nurejews hinterließen. Nicht zu vergessen seine Liebe zu Männern, die dafür sorgte, dass sich so manches Gerücht um ihn rankte.
Während der Lektüre des Romans fällt es zunehmend schwerer die Handlung als Fiktion zu betrachten, denn McCann schreibt so detailliert, dass die Grenzen zur Realität verschwimmen.
Der Kunstgriff, verschiedene Wegbegleiter Nurejews erzählen zu lassen, erweist sich als genialer Einfall und verschafft dem Roman seinen außergewöhnlichen Reiz. In Anbetracht der Tatsache, dass das Leben Nurejews auf Grund seiner Fülle und Einmaligkeit geradezu nach einer künstlerischen Aufarbeitung rief, ist der Umstand, dieses Leben auch adäquat in Worte fassen zu können, von nicht zu vernachlässigender Bedeutung. Gerade dies ist McCann grandios gelungen. Ein Meisterwerk! Torsten Seewitz, 15.01.2004

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