Herman Melville
"Bartleby, der Schreiber"

Aus dem Amerikanischen von Isabell Lorenz
Ullstein Taschenbuchverlag München 2001
103 S.; 6,95 Euro



Zu Lebzeiten hatte Herman Melville nicht das Glück eines erfolgverwöhnten Schriftstellers. Wurden seine ersten Romane Typee (1846) und Omoo (1847), in denen er, eigene Erfahrungen verarbeitend, das romantische Bild der Seeschifffahrt voller Abenteurer aufleben ließ, noch gern gelesen, verblasste sein Ruhm mit dem dritten Roman Mardi (1849). Nicht philosophische und psychologische Reflektionen wollten die Leser in Melville Romanen wiederfinden, sondern sich spannend unterhalten wissen. Um so mehr verwundert es, dass sein berühmtester Roman Moby Dick (1851), der bereits sehr modern von Kapitän Ahab und seiner Jagd auf den weißen Wal Moby Dick erzählt, ebenso von den Lesern ignoriert wird. 
Populär wurde Melville erst wieder mit Erzählungen, die er in den Literaturzeitschriften Putnam's Monthly Magazine und Harper's New Monthly Magazine in Jahren 1853 bis 1856 veröffentlichte, obgleich er von derlei Ruhm wenig hatte, da diese Magazine die Namen ihrer Autoren verschwiegen. 
In diese Zeit fällt auch das Entstehen seiner wohl populärsten Erzählung Bartley, der Schreiber (1853), in der Melville von einem jungen Mann erzählt, der sich scheinbar unmotiviert von einem auf den nächsten Tag dem Nichtstun verschreibt. 
Anfänglich glaubt der ihn beschäftigende  Notar noch an eine Laune seines Schreibers, als dieser das Korrigieren seiner Kopien mit den Worten "Ich würde es vorziehen, es nicht zu tun" ablehnt. Doch sehr bald muss er erkennen, dass die Arbeitsverweigerung seines Angestellten umfangreicher wird und er Bartleby weder mit guten Worten noch mit Drohungen zur Arbeit bewegen kann. 
Melville lässt die Beweggründe Bartlebys, nichts mehr zu tun, völlig offen. Vielmehr erzählt er aus der mitfühlenden Perspektive des Notars, der sich bei aller Anstrengung keinen Reim auf das sonderliche Verhalten seines Kopisten machen kann. Selbst der Umzug der Kanzlei und das Zurücklassen Bartlebys in den alten Räumlichkeiten bringt diesen nicht zur Vernunft.
Es bleibt eine Vermutung, Melville könnte mit diesem Verhalten eine möglich Alternative zum unmenschlichen, gefühlskalten Arbeitsklima der damaligen Zeit gesehen haben. Alle vorkommenden Personen sind der Arbeit ergeben und streben nach hoher Leistung und vor allem Anerkennung. Bartleby, der Antiheld, verweigert sich diesem System und findet seine Freiheit erst im Tod. 
In der Person der Erzählers, des Notars, spiegelt Melville gekonnt die Lebenswelt eines Menschen, für den die Lebenswelt anderer keine große Rolle spielte. In der Konfrontation mit Bartleby, gerät der Notar an seine Grenzen. Obgleich der ungewöhnliche Schreiber in keiner Weise seinem elitären Menschenbild entspricht, handelt er in kurzen Momenten mitfühlend und die Eigenarten seines Schreibers respektierend. Doch kann er sich nicht aus seinen Konventionen befreien und muss dem Untergang Bartlebys hilflos zusehen. 
Mit der Gestalt des Bartleby hat Herman Melville eine der beeindruckendsten Figuren der Weltliteratur geschaffen, die dem Leser auf Dauer nachdringlich im Gedächtnis bleiben wird. Zum Glück erlebt der Autor mit der Neuübersetzung seiner Werke eine Renaissance, die sein vielfältiges und grandioses Werk wieder einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht. ©Torsten Seewitz, 10.02.2003 


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