Marcel Möring
"Modellfliegen"
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen
Luchterhand Verlag München 2001
120 Seiten, 15,50 €

Der niederländische Schriftsteller Marcel Möring dürfte den deutschsprachigen Lesern kein Unbekannter mehr sein, denn bereits in den Jahren 1994 und 1998 wurden seine Romane "Das große Verlangen" und "In Babylon" ins Deutsche übersetzt und durch den Suhrkamp bzw. Luchterhand Verlag veröffentlicht. Spätestens seit "In Babylon" zeigte sich, welch ungeheure Sprachmagie Möring besitzt. Dass dies eine Mehrheit seiner Leser so sieht, beweisen die zahlreichen Literaturpreise, die Möring in den vergangenen Jahren erhielt.
Mit der Novelle "Modellfliegen", für die er die Arbeit an einem neuen Roman unterbrochen hat, setzt Marcel Möring wiederum auf die vertraute Kraft der Erinnerung. In eindringlichen, poetischen Bildern beschwört er die letzten Tage einer unbeschwerten Kindheit.
  Der Vater, der in einer Anwandlung von falschem Stolz seinen alten Job gekündigt hat, findet keine neue Arbeit. Mehr durch Zufall verschafft ihn sein Sohn David eine neue Beschäftigung, und nicht nur ihm, sondern gleich der gesamten Familie. Im Geschäft des mürrischen Puppendoktors, ihrem Vermieter, entstand die Idee, Modellflugzeuge zusammen zu bauen, da dieser sich über Kinder von Heute beklagte, die alles fix und fertig kaufen wollten.
Fortan saß die Familie Abend für Abend um den Küchentisch und klebte Teil für Teil kleine Plastikmodelle von Flugzeugen zusammen. Doch es ist ein trügerisches Idyll, welches sich dem Leser hier darstellt. Die Unterhaltung der Eltern beschränkt sich auf ein Minimum, das Verhältnis zwischen ihnen wirkt angespannt und kühl.
Als der Vater mit seinem Sohn allein ist, beschwört dieser die glücklicheren Tage seines Lebens. Er erzählt ihm von seiner Zeit als Pilot im 2. Weltkrieg, von den Tagen als er schwerverletzt in einem Krankenhaus liegend, Davids Mutter kennen lernte. Er erzählt ihm auch von seiner waghalsigen Flucht vor den Nazis in Richtung England. David hört ihm gebannt zu, doch versteht er die plötzliche Melancholie seines Vaters nicht. 
Ein wenig Abwechslung versprach der unerwartete Besuch von Humbert Coe, einem Kriegskameraden des Vaters.  Ein Besuch, der als nette Geste gedacht war. Doch hinter der Fassade des Familienglücks reißen alte Wunden wieder auf. 
Möring findet für seine Novelle ein wunderbar dichte Sprache mit ungeheurer Anziehungskraft. Ein erzählerisches Glanzstück stellt wohl die Szene dar, als der vermeintliche Freund der Familie, Humbert Coe, David ob seines Berufswunsches Koch in ein Gourmetrestaurant einlädt. Literatur, von der man sich wünscht, sie würde nicht enden.
Kompositorisch wenig geglückt scheint mir hingegen das Ende der Novelle. Statt den Konflikt aufzulösen, hinterlässt Möring in der Schlussszene einen fragenden, verunsicherten Leser. Man könnte meinen, Möring wolle den Text schnell beenden, um ihn nicht episch ausufern zu lassen. Denn das Thema dieser Novelle böte durchaus Stoff für einen umfangreichen Roman. So wirkt der Text in sich, durch diesen ungewissen Ausgang, nicht geschlossen, obgleich der Autor an das Ende der Novelle, gewissermaßen als Erklärung für dieses abrupte Ende, die Erinnerung des erwachsenen David setzt. Eine Erinnerung an die Tage, als die Unbeschwertheit aus dem Reich seiner Kindheit verschwand.
©Torsten Seewitz, 17.09.2001

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