Erwin Mortier
"Meine zweite Haut"
Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
Suhrkamp Verlag Frankfurt 2004
177 S.; 17,90 Euro


Die Welt des kleinen Anton entspricht so ganz dem Paradies der Kindertage, welches wir so gern, erwachsen geworden, erinnern.  Behütet aufgewachsen im Schoß einer Großfamilie, ist er der ganze Stolz seiner Eltern und als Einzelkind der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Bis zu jenem Tag, als Robert, sein Cousin, im Nachbarzimmer für unbestimmte Zeit einzog. Plötzlich war alles anders und Anton fühlte sich sonderbar angezogen und zugleich abgestoßen von dem Älteren, der so gar nicht mehr der Rüpel war, als den er ihn aus Kindertagen in Erinnerung hatte. Robert spielte Fußball, interessierte sich für Mädchen und achtete sehr auf sein Äußeres. Alles Dinge, die Anton weniger beeindruckten. Viel lieber zog er sich zurück, um zu träumen oder er beobachtete einfach die Welt um sich herum.
Obgleich sein Cousin sicherlich den Anstoß gab, über sein Andersein nachzudenken, fand Anton erst in Willem einen Verbündeten. Willem war ein Klassenkammerad, den er in der neuen Schule, die er seit Sommer in der nahegelegenen Stadt besuchte, kennen lernte. Beide verstanden sich vom ersten Tag an, auch ohne viele Worte. Es war wohl so etwas, was man gemeinhin als Seelenverwandtschaft bezeichnet. Doch vielleicht war es auch mehr, denn Anton entdeckte Gefühle in sich, von denen er bislang keine Ahnung hatte, daß sie in seinem Inneren verborgen lagen. Auf sonderbare Weise fühlte er sich von Willem angezogen, der ein so ganz anderes Leben gewohnt war. Aufgewachsen im Reichtum hatte er eine andere Art, die Welt zu betrachten, weniger verträumt als Anton dies tat.
Wie bereits in seinem Erstling "Marcel" erzählt Erwin Mortier in "Meine zweite Haut" die Geschichte eines jungen Mannes, der versucht seinen Platz in der Erwachsenenwelt zu finden. Er begleitet seinen Protagonisten Anton von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter und läßt mit zauberhaften Bildern eine Welt auferstehen, die die innere Entwicklung seines Helden auf eindringliche Weise sichtbar macht. Nie wird Mortier pathetisch oder unglaubwürdig. Im Gegenteil, entwickelt sich doch beim Lesen eine ungeheure Empathie für seinen Helden. Selten ist so zärtlich vom Erwachen der Gefühle und der ersten Liebe zu einem Mann geschrieben worden.  Torsten Seewitz, 16.05.2004

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