Erwin
Mortier
"Marcel"
Aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert
Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. 2001
150 Seiten, 15,80 €
Manchmal ist sie schwer zu verstehen, die
Welt der Erwachsenen. Hinter Mauern des Schweigens oder vagen Andeutungen
verbergen sie ihre Geheimnisse, in der Hoffnung, das Unsagbare ließe sich so
verdrängen und letztendlich vergessen.
Erwin Mortier hat mit seinem Debütroman "Marcel" versucht, genau
diesen Geheimnissen aus der Sicht eines kleinen Jungen nachzuspüren. Für
diesen scheint die Welt jedenfalls in Ordnung zu sein, vor allem wenn er, unter
dem Wohnzimmertisch versteckt, die Besucher der Großeltern beobachten kann. Vor
allem wenn Bekannte oder Fremde die Großmutter aufsuchen, um sich von ihr etwas
nähen zu lassen. Besonders spannend sind die Anproben, denn da gibt es Kaffe
und Kuchen und es wird viel erzählt.
Gelegentlich reden sie dann über Marcel, doch den kennt er nur vom Foto, gekleidet in einer schwarzen
Uniform. Er ist im Krieg verschollen, erklärt die Großmutter beim wöchentlichen
Abstauben der Ahnengalerie in ihrer Vitrine. Dann schweigt sie meist, wie alle
anderen, die ebenfalls die Stimme senken, wenn sich Erinnerungen an die Zeit der
faschistischen Besatzung während des großen Krieges nicht vermeiden
lassen.
Mortier lässt uns in seinem Roman teilhaben an der Spurensuche des kleinen Jungen. Ganz
unbefangen versucht sich dieser die großen Geheimnisse der Erwachsenenwelt zu
erklären, von Mortier in beeindruckenden sprachlichen Bildern erzählt. Es ist
vor allem diese Erzählperspektive aus dem Blickwinkel des Kindes, die einem
beim Lesen des Romans gefangen nimmt. Der Autor erzählt in leisen Töne, fernab jeder
Sensationslüsternheit und einseitiger Verurteilung der Täter. Wahrlich
meisterhaft, mit kühnen Metaphern nähert er
sich einem schwierigen, und bis heute nicht vergessenen
Kapitel belgischer Geschichte.
Das Vergangene lebt in der Gegenwart weiter und lässt sich nicht abschütteln
wie Staub auf einer schmutzigen Jacke. So sind es vor allem die zahlreichen Kollaborateure, die
sogenannten "Schwarzsäcke", die nach Kriegsende den Hass der anderen
zu spüren bekommen.
"Marcel" gehört in den Niederlanden und Belgien zu den
erfolgreichsten Büchern der letzten Jahren. Erwin Mortiers Erstling wurde von
der Kritik hoch gelobt ("ein berührendes Meisterwerk") und mit bislang fünf
Literaturpreisen prämiert. ©Torsten Seewitz, 30.05.2001