Mikael
Niemi
"Populärmusik aus Vittula"
Aus dem Schwedischen von
Christel Hildebrandt
btb München 2002
304 S.; 19,90 Euro
Es
scheint so, als hätte Mikael Niemi mit seinem Roman
"Populärmusik aus Vittula" in Schweden ein
bestimmten Nerv getroffen. Sein Roman wurde nahezu mit
Preisen überhäuft, das nationale Feuilleton
übertrumpfte sich gegenseitig mit euphorischen Hymnen.
Nun liegt dieses Buch in deutscher Übersetzung vor und
in der hiesigen Medienlandschaft wird es mit der
gleichen Euphorie aufgenommen. Diese Begeisterung lässt
Großes, Bedeutendes ahnen, doch Niemi erzählt nicht
die große schwedische Familiensaga, sondern die
Geschichte des Erwachsenwerdens in der Provinz. Die Bezeichnung
Provinz ist hier wörtlich zu nehmen, denn Niemis Held
Matti und seine schweigsamer Freund Niila leben im
äußersten Norden ihres Landes, einer Gegend, die ihre
eigenen Gesetze schreibt, fernab der hektischen Welt der
zivilisierten Gesellschaft.
Niemi beginnt mit einem Prolog, in dem wir den Erzähler
Matti auf einer Besteigung eines Berges im
Annapurnamassiv in Nepal begleiten. In den
Anfangssätzen lässt sich nun erahnen, was den Leser
auf den nächsten 300 Seiten erwarten wird, denn Matti
bleibt in 5415 Meter Höhe mit seinen Lippen und seiner
Zunge an einer in den Boden eingelassenen und eisig
kalten tibetanischen Gebetsklappe kleben. Als er einmal
als Kind im Winter eine Türklinke anleckte und daran
festklebte, hat seine Mutter die Zunge mit heißem
Wasser gelöst. Doch seine Mutter ist weit weg,
und heißes Wasser ist auch nicht zu bekommen. Also wie
sich aus dieser misslichen Lage befreien, wenn keine
Rettung in Sicht ist? Matti fällt etwas ein, nicht
gerade appetitlich, doch äußerst hilfreich.
Bereits an dieser Stelle werden sich erste Lacher nicht
unterdrücken lassen.
Im gleichen, vor Witz sprühenden Tempo, erinnert sich
Matti seiner Kindheit im Tornedal, einer Landschaft die
zum Wodkagürtel gehörte, der sich über Finnland bis
nach Russland erstreckte. Was soll man in dieser Ödnis
anderes tun, als sich zu betrinken und anschließend den
konsumierten Alkohol in der Sauna wieder
auszuschwitzen.
Matti jedoch ist noch ein Kind und die Welt der
Erwachsenen ein Buch mit sieben Siegeln.
Neben den üblichen Streichen, die wohl zu jeder
Kindheit gehören, entdecken Matti und sein Freund Niila
die Musik für sich. Obgleich der Rest der Welt bereits
auf Popmusik und psychodelische Klänge schwört, hält
in Pajala der Rock 'n Roll in Form einer Elvis-Platte
Einzug. Eigentlich gehört die Single Mattis Schwester
und diese hatte ihm strikt untersagt, ihren
Plattenspieler anzurühren. Im Glauben, seine Schwester
überlisten zu können, lässt sich Matti nicht von
ihren Drohungen abschrecken. Geradezu magisch zieht ihn
die Elvis-Platte in seinen Bann, und als die ersten
Töne die Lautsprecher verlassen, war es um ihn
geschehen. Musik und nochmals Musik sollte fortan sein
Leben bestimmen.
Niemis Buch ist neben einer fabelhaft erzählten
Kindheitsgeschichte, vor allem eine wunderbare
Reminiszenz an die Kraft der Musik, die bekanntlich
Berge versetzen kann. Im Falle von Matti stieß sie
jedenfalls die Tore zur weiten Welt auf, hinaus aus dem
provinziellen Mief. © Torsten Seewitz, 30.10.2002