Martin Page
"Antoine oder die Idiotie"
Aus dem Französischen
von Moshe Kahn
Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2002
144 Seiten, 16,50 Euro
Was tun,
wenn einem die eigene Intelligenz zur Last wird, so ganz
entgegen dem Faust'schen Streben nach mehr Wissen, um
letztendlich zu verstehen, was die Welt im Innersten
zusammenhält? Ja, geistige Brillanz kann auch arm
und unglücklich machen. So sieht es jedenfalls Antoine,
der Held aus Martin Pages Debütroman "Antoine und
die Idiotie".
Antoine ist unzufrieden mit seinem Leben, seinen Freunden und
der Welt an sich. Um dem eigenen Unglück zuvorzukommen,
beschließt er sich systematisch um den Verstand zu
bringen. Doch wie soll das geschehen, einfach
Boulevardblätter lesen, die regelmäßigen Schachspiele
mit den Freunden meiden und stattdessen Monopoly zu
spielen oder gar zu arbeiten, wie jeder andere Bürger
auch? Antoine hat nur eine vage Vorstellung von seinem
Ziel und er beschließt stattdessen, mit übermäßigen Alkoholgenuss
der Wirklichkeit zu entfliehen und langsam von dieser
Droge abhängig zu werden. Jedoch scheitert
der erste Versuch in einer Bar und Antoine landet wegen
einer "physiologischen Überempfindlichkeit" mit
einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus, nachdem er ein
halbes (!) Glas Bier getrunken hatte. Also auf zum
nächsten Versuch. Der "Club der Selbstmörder"
versprach Rettung. Doch alle anderen sterben, nur Antoine
verlässt der Mut. Dann bleibt nur noch, seinen
langjährigen Arzt zu fragen, ob er nicht einen Teil
seines Gehirn entfernen könnte. Dieser lehnt empört
Antoines Ansinnen ab, stattdessen verschreibt er ihm ein
Medikament, welches ihm von seiner Last befreien
könnte. Eifrig schluckt Antoine täglich die Pillen und siehe da,
der Alltag verliert sein tristes Grau.
Er meldet sich in einem Fitneßsstudio an, beschließt
fortan seinen Hunger bei McDonalds zu stillen und nimmt
einen Job bei einem Börsenmakler an. Man könnte sagen,
Antoine war auf dem besten Weg, ein bürgerlich normales
Leben zu führen.
Jedoch scheint es wie verhext zu sein, denn die
anfängliche Zurückhaltung in seinem neuen Job, macht ihn
durch ein
Missgeschick zum erfolgreichsten Mitarbeiter und zu einem
reichen Mann. Antoine kann ich auf ein Mal alles leisten
und sich ganz dem Rausch grenzenlosen Konsums hingeben.
Sogar ein Auto kauft er sich, obwohl er keinen
Führerschein besitzt.
Das Leben schien plötzlich in Ordnung, alles war so
normal. Doch hat Antoine nicht an seine Freunde gedacht,
die seine Bemühungen, sich um den Verstand zu bringen,
mit Argwohn verfolgen ...
Martin Page hat einen beeindruckenden kleinen Roman voll
skurriler Gestalten geschrieben, der uns auf sehr humorvolle
Weise den
Spiegel unserer auf Leistung und Konsum orientierten
Welt vorhält. Leider fallen die Spannung und die
erzählerische Brillanz zum Ende hin etwas ab, doch wiegen
die ersten Kapitel doppelt schwer. Wer schwarzen Humor
mag, dem werden vor allem diese besonders gefallen. Einen
satirischen "Bildungsroman rückwärts" nennt
der Verlag Pages Roman; zutreffender kann man ihn, wie ich
finde, nicht charakterisieren. © Torsten Seewitz,
21.06.2002