Annette
Pehnt
"Ich muß los"
Piper München 2002
125 S.; 7,90 Euro
Als Dorst merkte, dass niemand es
mochte, wenn er die Wahrheit sagte, begann er zu schweigen. Seit seinen
Kindertagen galt er den Anderen als ein Träumer und Einzelgänger. Seine
Mutter, die sehr wohl sein sonderliches Wesen erkannte, schickte ihn zum
Nachbarjungen Gregor, damit dieser mit ihm spielen sollte. Doch glücklich war
Dorst nie. Er hoffte stets, seine Mutter bemerke nicht, dass er den Nachmittag
wieder allein verbrachte.
Erst als er die junge Elner kennen lernte, schien der Schutzpanzer, der ihn
umgab, etwas durchlässiger zu werden. Sie war die einzige, die ehrlich
versuchte, seine Eigenarten zu akzeptieren, wenn auch manchmal am Rande des
Nervenzusammenbruchs. Aber Dorst konnte sich nicht anpassen. Im entscheidenden
Augenblick, wenn die Wahrheit seine Lippen verlassen wollte, sagte er stets
"Ich muss los!". Aufgrund dieser Tatsache hielt es keine der Frauen,
mit denen er zuvor zusammen war, längere Zeit mit ihm aus.
Nach seiner Kindheit befragt, gab Dorst nur unwillig Auskunft. Zumeist sah er
seinen sterbenden Vater vor sich, der sich zu Tode hungerte und dessen Leiden
seine Mutter vor ihm zu verbergen versuchte. Nach dem Tod des Vaters währte die
Zeit der Trauer nicht lange und seine Mutter hatte einen neuen Liebhaber, einen
Herrn namens Quoirin. Auch wenn dieser sich noch so mühte, einen neuen Vater
konnte Dorst in ihm nie sehen.
Und obgleich Dorst in der Schule kein schlechter Schüler war, erlernte er nie
einen Beruf. Viel lieber gab er sich als Stadtführer aus, der die Touristen zu
äußerst außergewöhnlichen Sehenswürdigkeiten, wie dem Limonadenbrunnen
führte und dabei seine vor Phantasie überbordenden Geschichten zum Besten
gab.
Annette Pehnt hat mit ihrer Figur des Dorst einen Menschen geschaffen, den es
vielleicht nur noch im Roman gibt. Einen Tagträumer und Einzelgänger, den die
Schnelllebigkeit unserer Zeit nicht zu berühren scheint, dem Konventionen egal
sind und der sich geschickt aus jeder Verantwortung zu nehmen versteht. Es ist
diesem Roman nicht anzumerken, dass es sich um ein Debüt handelt, so gekonnt
hat Annette Pehnt ihn geschrieben. Dorst gehört für mich zu jenen
Romanfiguren, die einem auch nach der Lektüre noch lange begleiten. Und was
will man sich als Leser und als Autor von einem Buch mehr wünschen, als dass es
diese Wirkung hat. © Torsten Seewitz, 04.11.2002